Familiengeschichten! 

             Ullos Brautsuche!

                 Blutrache!

                                                              (Eine Leseprobe)




"Eines Tages brachten die Männer unserer Sippe von der Bärenjagd einen schwerverletzten, jungen Mann
mit heim. Dieser hatte vom Gipfel des nächsten Berges aus unseren schönen See und unsere Pfahlbauten gesehen
und wollte sich die aus der Nähe betrachten.
Beim Abstieg, auf dem Weg dorthin, traf er in dem Schluchtengewirr unversehens auf den flüchtenden
Bären, der von unseren Männern gejagt wurde.
Durch diese überraschende Begegnung glaubte der Bär sich wohl eingekreist, denn er ging sofort zum
Angriff über.
Der junge Mann war reaktionsschnell und versuchte den Bären mit Pfeilschüssen aufzuhalten und sich
dabei in eine seitlich abzweigende Schlucht abzusetzen.
Doch er war fremd hier und wusste daher nicht, in welche Falle er lief.
Die Pfeilschüsse stoppten den Angriff des Bären nämlich nicht, sondern bewirkten das Gegenteil. Sie
steigerten seine Angst und seine Wut ins Unermessliche.
So blieb dem jungen Mann als letzter Hoffnungsfunke, nur noch ein verzweifelter Fluchtversuch. Doch,
war die Aussicht, vor einem angeschossenen Bären davonrennen zu können,
schon äußerst gering, so nahm ihm eine querverlaufende Felswand auch die letzte Chance..
Beim Rennen hatte er den Bogen bereits fortgeworfen.
Die Streitaxt riss er aus dem Fellgürtel, als er sich voller Verzweiflung herumwarf, um dem heranrasenden
Bären einen fürchterlichen Hieb zu versetzen.
Das geschah aber zufällig im selben Augenblick, als der Bär ebenfalls versuchte, durch einen Prankenhieb
den Schädel des Mannes zu zertrümmern.
Allein durch diese beiderseitigen, blitzschnellen Aktionen kam es dann, dass einerseits "nur" der Schädel
des jungen Mannes gestreift wurde und "nur" sein Schlüsselbein zerbrach. Andererseits aber auch, dass der
Axthieb ebenfalls "nur" den Bärenschädel streifte, diesen aber immerhin einseitig blind machte.
Der junge Mann wurde zu Boden gefegt und der Bär richtete sich vor Schmerz heulend auf, um sich
erneut auf seinen direkten Widersacher zu stürzen.
Die Jäger aus meiner Sippe aber hatten währenddessen den Rand der niedrigen Schlucht bereits erreicht
und, als der Bär sich aufrichtete, traf der kopfgroße Kiesel aus einer "Großen Schleuder" seinen Schädel -
raubte ihm die Sinne und beendete sein Leben augenblicklich.
Der junge Mann lag noch bewusstlos am Boden der Schlucht. Die streifende Tatze hatte zwar eine blutige
Furche von seinem Scheitel bis zum Hals hinterlassen, doch die Bewusstlosigkeit war wahrscheinlich die
Folge einer Gehirnerschütterung, die er sich beim Aufschlagen seines Kopfes auf den Felsen zugezogen
hatte.
Die sechs jungen Bärenjäger, die sich mit viel Ratschlägen und wenig Taten bemühten den
Schwerverletzten mit frischem Wasser in die Gegenwart zurückzuholen, waren meine Brüder und meine
Vettern.
Schließlich entschlossen sie sich, nach langem Palaver, den Fremden mit zu uns heimzubringen. Einer ließ
sich den Bewusstlosen auf die Schulter legen. Zwei andere trugen den Bären zwischen sich an einer
Stange, die man diesem durch die zusammengebundenen Beine geschoben hatte bis zur Bootsanlegestelle
am südlichen Ufer des Sees, die von riesigen Bäumen umgeben war.



Ein lautes: "Hoo-hee-hoo! - Hol-über!", scholl zu den Holzplattformen mit unseren Blockhütten herüber,
auf denen die übrigen Sippenangehörigen und ich mit den verschiedensten Arbeiten beschäftigt waren .
Z.B. waren da mein Vater Kovar und Onkel Ukor, sein Bruder, die beiden Sippenältesten. - Sie arbeiteten
am Neubau, der auf der neu errichteten Plattform das künftige Heim für Vetter Ullo werden sollte.
Meine Mutter Kira und Tante Ela waren damit beschäftigt aus vielen kleinen Pelzen Winterkleidung zu
schneidern.
Kusine Yora und ich aber säuberten einen Haufen kleiner Fische und zogen sie auf dünne Ruten, um sie
in ein Lehm verschmiertes Korbgestell zu hängen und dort im Heißrauch zu garen. Sie waren, mit
Kräutern und Knollen als Beilage, das Mittagessen für die heimkehrenden hungrigen Jäger.
Wir hatten deren Ankunft bereits erwartet, und als wir die Rufe der Männer hörten, sprangen wir in die
Boote - das waren riesige Einbäume und stakten zum Ufer, um sie abzuholen.
Den Schwerverletzten trug man in m e i n Boot und auf meine Fragen hin, erzählte mir Koro, unser
Jüngster - damals noch ein Halbwüchsiger -, wie sie auf den Fremden gestoßen waren und wie der zu
seinen schweren Verletzungen kam.
Schon im Boot bemühte ich mich, das Blut vom Kopf des Fremden und aus seinen krausen, schwarzen
Haaren zu waschen.
Zu Hause ließ ich den Verwundeten in unserer Hütte dann auf mein Lager legen.
Natürlich gab es ein großes "Hallo" um den Bären. Doch auch mich und meinen `Pflegling' vergaß man
nicht. Stets war irgend jemand da, der mir seine Hilfe anbot.
Nur Vetter Eunas passte das scheinbar gar nicht. - Er musste mal wieder frotzeln: "Schau lieber erst nach,
ob er Ungeziefer hat! Liebe Cara! - Sonst wirst du später die lieben, kleinen Beißerchen nicht wieder los!"
Ich kannte das schon von ihm.- Er hatte sich mal um meine Gunst bemüht. Er war aber von den Vätern
zurechtgewiesen worden. Denn bei uns war es Sitte, dass ein junger Mann sich seine Braut von einer
fremden, möglichst weit entfernten Sippe holte. D.h. er kaufte oder er raubte sie.
Doch seit der Abfuhr war Eunas mir gegenüber immer ein wenig aggressiv.
Du hast dir sicher schon gedacht, dass dieser Fremde euer Vater war, dessen von schwarzem Bart
umrahmtes Gesicht mir auf Anhieb so sympathisch war. - Tja ! War wohl Liebe auf den ersten Blick!
Obschon seine Körpergröße bei weitem nicht an den Riesenwuchs unserer Sippenmitglieder
heranreichte, musste man doch von seinen ausgeprägten, eisenharten Muskeln ungeheure Kräfte erwarten.
Nachdem ich seine Schulter bandagiert hatte, kühlte ich seinen Kopf, bis er endlich die Augen aufschlug.-
Er war völlig verwirrt.
Als er merkte, dass er den rechten Arm gar nicht bewegen konnte, wäre er fast in Panik geraten.- Er
beruhigte sich jedoch schnell, als ich ihm erzählte, was geschehen war und nach und nach erinnerte er sich
an alles, was vor dem Prankenhieb geschehen war.
Den Wurf mit der "Großen Steinschleuder" aber musste ich ihm erklären, hatte er doch bisher lediglich die
normalen Schleudern mit den faustgroßen Steinen gekannt.
Anlass zu ständigen Hänseleien war für Eunas auch die Aussprache von Urs.
Du weißt ja, Ciaro, dass euer Vater auch heute noch einen schwach südländischen Akzent hat, - denn du
imitierst ihn ja dauernd. Damals jedoch war sein Akzent so hart, dass ich oft Mühe hatte, den einen oder
anderen Begriff zu verstehen.



Das tat meiner Liebe zu ihm aber keinen Abbruch, zumal ich merkte, dass auch er mich gern hatte.
Solange er seinen Arm in der folgenden Zeit nicht gebrauchen konnte, musste er sich von mir rudern
lassen, - ob ihm das nun gefiel oder nicht.
Auf diesen Bootsausflügen zeigte ich ihm alles, was mir an meiner wunderschönen Heimat
besonders gefiel:
Der klare Bach, der im östlichen Seengebiet von einer dreißig Fuß hohen Felsenwand in den See stürzte -
wo ein Regenbogen sich in der Gischt seines Wasserfalles bildete - und im sprudelnden Wasser in dessen
Nähe die Forellen sprangen.-
Schattige Buchten an lauschigen Ufern oder auch flache, schilfbewachsene Stellen in denen die
Entenfallen lagen.
Ich zeigte ihm das Otterpärchen mit seinen Jungen in einer felsigen Bucht. Von denen durften aber meine
Angehörigen nichts erfahren, weil Otter ja Fischräuber sind - und außerdem so seidenweiche Felle haben.
Die Stellen, an denen im Osten die schönsten Sonnenaufgänge zu sehen waren, zeigte ich ihm, wenn der
Frühdunst noch neblig über dem Wasser lag.
Oder an langen, dämmerigen Abenden das westliche Ufer, wenn Scharen von Fledermäusen über den
glasklaren Fluten nach Insekten jagten.
Es war zwar einerseits eine herrliche Zeit in der Urs und ich uns auch als Liebespaar näher kamen. Doch
andererseits wurde dein Vater wegen seines aufgezwungenen Nichtstuns auch immer unzufriedener, zumal
er auch noch ständig von meinen Brüdern und Vettern verulkt und gefoppt wurde.
Die brauchten jetzt ihre Witzchen nämlich nicht mehr nur auf den "Tolpatsch" Koro, als Jüngsten zu
begrenzen.
Mit der Zeit aber wurden die Witzchen dann zu beleidigenden Geschmacklosigkeiten, bei denen sich ganz
besonders Eunas hervortat. Bei dem vermutete ich allerdings, dass nagende Eifersucht die Triebfeder zu
seinen Gemeinheiten war.
Ich machte Urs den Vorschlag, einfach anderswo eine neue Existenz zu beginnen, weil ich glaubte, dass er,
genau wie ich, dies alles kaum noch ertragen konnte.
Doch davon wollte er nichts wissen. Er wollte mich nicht aus der Sicherheit des Sippenverbandes heraus
in eine ungewisse Zukunft entführen.
Endlich, nach mehreren Wochen, war der gebrochene Knochen dann doch verwachsen und durch
ständige Übungen - und meine Massagen, machte die Heilung rasche Fortschritte.
Eines Tages fasste sich dieser "verkrüppelte, heimatlose Habenichts" dann ein Herz, und bat meinen Vater
um meine Hand und um Aufnahme in den Familienverband.
Damit entfiel der sonst fällige Brautpreis, weil meine Arbeitskraft der Familie ja erhalten blieb.
Direkt nach meines Vaters Zustimmung bat Urs ihn und Onkel Ukor um die Erlaubnis, an unser
Pfahldorf eine neue Plattform mit einer Blockhütte anbauen zu dürfen und diese später mit mir zu
bewohnen.
Die gerade erst für Vetter Ullo und seine künftige Braut erbaute Plattform - samt Hütte - stand im rechten
Winkel zu unseren beiden alten Hütten.
Deshalb beschlossen die beiden Ältesten, dass dein Vater die leere Wasserfläche, die in diesen Winkel
hineinragte, mit seiner Hütte und deren Grundlage ausfüllen sollte.
Weil damit eine quadratische Plattform entstehen würde, hätte man in der Mitte der vier Hütten dann
gleichzeitig einen richtigen Dorfplatz.
Mit wahrem Feuereifer ging Urs daran, Bäume für die einzurammenden Pfähle, die Plattform und die Hütte
zu fällen.


Zunächst half ihm nur Koro, der sich besonders zu ihm hingezogen fühlte, weil er der einzige Mann war,
der ihn als vollwertigen Menschen behandelte. - Doch mit der Zeit bemühten sich auch meine beiden
anderen Brüder Agor und Cando mitzuhelfen und sogar unser jüngster Vetter Duto half mit.
Ullo, der älteste Vetter aber war schon vor zwei Wochen mit seinen besten Feuersteinarbeiten
aufgebrochen, um sich eine Braut zu suchen.
So blieb nur Eunas, der sich aber hartnäckig weigerte, für den Zukünftigen seiner unerreichbaren
Angeschmachteten - "auch nur einen Finger krumm zu machen."
Die Scherze, die bei den Arbeiten hin- und herflogen waren nun weniger bissig - ja fast freundlich, denn
Urs war in der Achtung der Männer, von Eunas einmal abgesehen, gewaltig gestiegen.
Es war schließlich einfach nicht zu übersehen, mit welchem Geschick, welcher Kraft und welcher
Ausdauer er zu Werke ging.
Auch Koro, den man bisher wie ein Kind behandelt hatte, bekam langsam die gebührende Anerkennung.
Er stählte seine Muskeln bei der harten Arbeit - und ungeschickt war er unter deines Vaters Führung
schon gar nicht.
Ich dagegen geriet nun in den Mittelpunkt vieler Scherze, was mich aber wenig kümmerte.
Ob ich denn auch genügend Met und Wein für die Hochzeitsfeier angesetzt hätte, war eine der häufigsten,
und auch harmlosesten Scherzfragen, die ich mir anhören musste.
Natürlich gehörten nun mal Met und Wein zu unseren Feiern - und wir Leute vom Pfahldorf feierten
gerne. Nicht sehr oft, - doch wenn - dann richtig.
Alle halfen mir, Mengen von Beeren zu sammeln und die Säfte notfalls mit etwas Honig - zu Wein
anzusetzen. - Eben so viel, bis alle Gärungskannen gefüllt waren und es in deren wassergefüllten Rändern
gluckerte.
Tante Ela und Yora hatten bereits im Frühling begonnen, Birkenwasser und große Mengen von
Kuhblumen und Holunderblüten zu Wein anzusetzen.
Die jetzt bereits in versiegelten Krügen gelagerten Blütenweine hatten den Vorteil, dass man keinen Honig
zusetzen musste, ihr Geschmack aber den der Beeren- und Obstweine übertraf. Lediglich der Birkensaft
benötigte etwas Honig und Säure (z. B. Sauerdorn) für die Gärung.
Die Plattform für unsere Hütte war gerade fertiggestellt und ein Haufen schlanker Stämme
für den Hausbau lag bereits am Ufer, - als Ullo mit seiner Braut heimkehrte. Ullo war ein cleverer
Bursche, - noch nicht einmal eine Verfolgung hatte es bei der "Entführung" seiner Braut gegeben - Von
Gewalt oder gar Totschlag ganz zu schweigen. Nun, Ullo hatte lange vorher das Ganze sorgfältig geplant.
Er hatte schon seit längerer Zeit mit großem Eifer Feuersteinmesser, Pfeil- und Speerspitzen hergestellt, -
denn er war ein wahrer Künstler in der Bearbeitung von Feuerstein.
Wenn andere Handwerker die Schneiden ihrer Geräte schon als "fertig" bezeichneten, begann Ullo erst mit
den Feinarbeiten. Mit Knochen- oder Hartholzknollen machte er dann nachträglich noch so feine
Abschläge, dass man sich mit einem, aus seiner Hand entstandenen Messer, tatsächlich rasieren konnte.
Weil seine Geräte also echte Kostbarkeiten darstellten, machte er sich mit einem Rucksack voll davon als
Händler auf den Weg.
Natürlich ging es ihm gar nicht darum, seine "Ware" zu verhökern, sondern er wollte ungeschoren zu
möglichst vielen Sippen kommen, um das Mädchen seiner Liebe zu finden.
Er zog weit nach Westen und gab sich stets als Mitglied einer Handelskarawane aus, die kurze Zeit später
folgen würde. So konnte er ziemlich sicher sein, nicht überfallen und ausgeraubt zu werden. Eine
Handelskarawane bestand nämlich immer aus kampferprobten Männern, die zudem den Ruf besaßen,
ihr Einkommen durch gelegentliche Überfälle oder auch durch Sklavenhandel aufzubessern.



Nach vielen Tagen der Wanderschaft gelangte Ullo an einen reißenden Strom, dem er Stromabwärts nach
Norden folgte, bis der Strom sich durch ein Felsengebirge zwängte.
Die eine Möglichkeit sich ein Floß zu bauen, war ihm zu zeitraubend und zudem wegen der
Stromschnellen zu unsicher.
Auch auf die zweite Möglichkeit, sich einen Weg durch das wildzerklüftete Gebirge zu suchen, verzichtete
er, da querlaufende Felswände und Schluchten ihm immer wieder den Weg abschneiden konnten.
So wählte er den Umweg - zurück, gen Osten. Dieser Umweg kostete ihm mehrere Tage. Denn erst als
die schroffen Felsenberge in sanftere Hügel übergingen, überquerte er diese in nördliche Richtung.
Bereits am Mittag des folgenden Tages sah er von der letzten Höhe herab eine weite Ebene vor sich
liegen.
Die Aussicht auf ein flottes Wandertempo trog jedoch fürchterlich, denn das flache Gebiet stellte sich als
riesige Sumpf- und Moorlandschaft heraus, deren Durchquerung einem Selbstmord
gleichkam.
Ullo entschloss sich die sanften Berghänge westwärts zu durchwandern, um so wieder an den Strom zu
gelangen.
Hier, zwischen Sumpf und Felsengebirge gab es Wild in Hülle und Fülle. Darüber hinaus noch Mufflons in
den Bergen und Elche in den Sümpfen.
Die stellenweise mit lichtem Wald bewachsenen Hänge aber boten Rudeln von Rehen, Hirschen, Wisenten
und Auerochsen ausgezeichneten Lebensraum.
Ullo wunderte sich schon, dass in dieser wahrhaft reichen Gegend keine menschliche Siedlung anzutreffen
war. Doch bereits kurze Zeit später wurde er eines besseren belehrt. Als er das Zischen hörte, steckte
auch schon ein Pfeil in dem Baumstamm direkt vor seiner Nase. - Laut hörte er eine rauhe Stimme von
der nahen Felsenkanzel rufen: "Keinen Schritt weiter, Fremder! Dies ist das Reich von Wargos Sippe. -
Was hast du hier zu suchen? - Sprich wenn du nicht augenblicklich sterben willst."
"Ich bin Kundschafter einer Handelskarawane." Schrie Ullo zurück. "Und wenn ich bis heute abend nicht
zurück bin, wird euch das übel bekommen, wie stark auch immer ihr seid. Ich kann euch auch einige
Stücke unserer Ware zeigen! Wertvolle Messer, Speer- und Pfeilspitzen! Ich bin im Moment allein, kann
ich kommen und die Sachen vorlegen?"
Es dauerte eine Weile, bis die Antwort kam: "Es stimmt scheinbar, dass du allein bist! - Also
gut!- Siehst du den freien Platz rechts neben der Felskanzel? Warte dort! - Es kommt jemand!"
Ullo ging zu der freien Stelle und breitete seine Sachen auf einem flachen Stein aus.- Nach kurzer Zeit
hörte er leise Schritte hinter sich. - Als er sich umdrehte, erblickte er einen hünenhaften Krieger, der ihm
zumindest an Körpergröße ebenbürtig war.
Sein Helm bestand aus einem Wisentschädel mit den Hörnern und der kurzen krausen Mähne und verlieh
ihm ein furchterregendes Aussehen, - Und seinen Lederharnisch, den er um den Oberkörper geschnallt
trug, würde so leicht wohl auch kein Pfeil durchdringen können.
Nun, Ullo ließ sich davon keineswegs aus der Ruhe bringen. War er doch selbst ein kampferprobter
Recke.
So sah er gelassen zu, wie der Krieger seine Ware begutachtete.
"Vorzügliche Arbeit!", meinte dieser schließlich. "Wird Wargo wahrscheinlich interessieren. - Was sagtest
du? - Wie groß ist eure Karawane?"
"Zwölf schwer bepackte und gut bewaffnete Männer könnten in einigen Stunden hier sein. - falls Wargo das wünscht."



"Nein!" kam es überraschend schnell zurück. "So viele Fremde stören nur die Ruhe dieses Gebietes. - Sie
sollen bleiben, wo sie sind. - Sechs mal zehn gut bewaffnete Krieger würden sie empfangen, wenn sie es
dennoch wagen sollten. Dich zum Beispiel beobachten wir schon seit einer Stunde. Was du
herbeischleppen kannst, genügt uns. - Und sonst gibt es hier keine Geschäfte, denn außer unserer Sippe
gibt es hier niemand, mit dem ihr handeln könntet.
Im Norden sind die unwegsamen Sümpfe. Im Süden die zerklüfteten Felsenberge und weit im Westen der
große Fuß mit seinen Stromschnellen.
Du magst vielleicht gehört haben, dass es im Sumpf ein paar Leute gibt, die in der Nähe des Stromes auf
Hügeln wohnen, aber bei denen ist absolut nichts zu holen.
Die sind froh, wenn sie ein paar Kiepen Brenntorf, ein paar Fische oder hin und wieder ein paar Biberfelle
gegen Fleisch und Geräte eintauschen können. - Nein, bei denen ist nichts zu holen.
Ich werde Wargo dieses Messer hier als Muster vorlegen.
Wir haben weißen Hermelin oder auch andere Felle. Trockenfleisch und wenn es sein muss, auch ein
Mädchen aus dem Sumpf zum Tauschen.
Wenn du Interesse hast, sei morgen zur gleichen Zeit mit deinem Packen an dieser Stelle!"
Er nahm das schönste seiner Messer und verschwand, ohne ein weiteres Wort.
Das Mädchen aus dem Sumpf ging Ullo während seines Rückmarsches nicht mehr aus dem Kopf. Er
konnte an nichts anderes mehr denken.- Vielleicht war es genau d i e, die er suchte. Weshalb, so überlegte
er, sollte er Wargo seine mühsam hergestellten Geräte überlassen, - für ein Mädchen von den armen
Leuten, während diese trotz des Verlustes dann wahrscheinlich leer ausgingen.
Dann konnte er doch ebensogut direkt mit den Leuten verhandeln. Denn dann wüssten die, zu wem ihre
Tochter käme. Und die wertvollen Geräte könnten sie bestimmt auch gut brauchen.
Außer Sichtweite der Felsenkanzel bezog Ullo nun seinerseits einen Beobachtungsposten und wartete den
Einbruch der Dunkelheit ab.
Da er ein guter Jäger war, hatte er sich auf dem Hin- und Rückweg zur Kanzel sämtliche wichtigen
Einzelheiten eingeprägt.
Deshalb fiel es ihm auch gar nicht schwer, sich trotz des Packens in der Dämmerung am Wachposten
vorbeizuschleichen, zumal er unsichtbares und lautloses Fortbewegen ja von Kindheit an geübt hatte.
Ganz offensichtlich genügte Wargos Sippe dieser eine Posten zum Schutze ihres Gebietes, denn auf der
gesamten weiteren Strecke bis zum Strom konnte Ullo trotz scharfer Beobachtung keinen einzigen
Wachposten mehr entdecken.
Nur die höchsten Felsen der Berge waren noch eingetaucht im rosigen Schimmer der untergehenden
Sonne. Hier unten in der Nähe des Sumpfes verwischte diffuses Zwielicht langsam
alle Konturen zu undeutlichen Schemen.
Trotzdem verrieten ihm die Gerüche, die der Westwind ihm zutrug, dass er nicht mehr sehr weit vom
großen Strom entfernt sein konnte.
Aber auch die Ausdünstungen von Rindern glaubte er wahrzunehmen.
Ullo näherte sich einer Baumgruppe, die ringsum mit dichtem Randgebüsch zugewachsen war, als er das
Rülpsen, Mahlen und leise Schnauben von Wiederkäuern hörte.
Da er sich lautlos bewegte und der Westwind seine Witterung in die entgegengesetzte Richtung trug,
konnten ihn die Wisente oder Auerochsen auf keinen Fall bemerkt haben.
Im Nu reifte in Ullo ein Plan, wie er den "Moorleuten" ein zusätzliches Geschenk bescheren konnte.
Lautlos wie er gekommen war, schlich er zurück, bis er sicher war, dass ihn die Wildrinder - trotz geplanter
Arbeiten nicht mehr wahrnehmen konnten.



Dann sammelte er von den Astbrüchen der Nadelbäume das ausgelaufene Harz, umwickelte das eine
Ende seines Knüppels mit trockenem Gras und tupfte dieses dann solange in das Harzhäufchen, bis sich
alle klebrigen Krümel darin verfangen hatten. Schon nach wenigen Minuten hatte er eine Fackel fertig.
Glücklicherweise herrschte völlig trockenes Wetter. Deshalb konnte er auch sein Beutelchen mit Zunder
hervorholen und mit den Funken, die er mit Feuerstein aus einem Pyritbrocken schlug, eine Flamme
entfachen. Was ihm bei feuchtem Wetter sicherlich niemals gelungen wäre. So aber kam er problemlos zu
einer brennenden Fackel.
Als erfahrener Jäger vermutete Ullo, dass die Tiere instinktiv den Engpass zwischen Strom und Moor
vermeiden, und versuchen würden, durch den Busch bestandenen lichten Wald nach Osten in die freie
Region durchzubrechen.
Deshalb lief er fackelschwingend und laut brüllend auf das Wäldchen zu.
Allerdings hielt er gleichzeitig schräg auf das sumpfnahe Buschland zu.
In der ersten Panik rannten die Ure, ein Stier mit drei Kühen und zwei Kälbern, tatsächlich in Richtung
Strom davon.
Doch sehr rasch änderte der Stier die Richtung. Er schlug einen Bogen nach Norden und wollte dann, wie
Ullo schon vermutet hatte, durch die Büsche nach Osten durchbrechen.
Ullo war aber schnell genug, das Randgebiet des Sumpfes noch vor den Wildrindern zu erreichen.
Der Feuerbrand der Fackel verursachte bei den Tieren eine solch panische Angst, dass sie erneut in
Richtung Strom davonjagten.
Offensichtlich reichte das Moor in der Nähe des Stromes bis an die Hänge der Berge heran, denn als er
schließlich den Strom sehen konnte, waren Sumpfgräser hier auch schon die vorherrschenden Pflanzen
der Vegetation.
Nur einige Buschinseln aus Weiden-, Erlen-, Birken- und Brombeergestrüpp wuchsen auf den wenigen
trockenem Streifen.
Hier hatten sich früher wohl bei Überschwemmungen Sandbänke gebildet und - genauso, wie Ullo es
geplant hatte, flüchteten die Tiere auf diese Streifen.
Er hütete sich, die Tiere jetzt noch weiter zu hetzen, weil sie sonst eventuell doch noch in den Sumpf
gerannt wären.
Allerdings sah Ullo zu, dass er stets etwas Brennendes in den Händen hielt, denn mit dieser Lage gab sich
der Stier keineswegs zufrieden. Er brüllte und warf mit den Vorderhufen Sand und Sträucher hoch.
Ohne das Feuer in Ullos Hand, wäre er sicher längst zum Angriff übergegangen.
Plötzlich tauchte seitlich aus dem Riet, - scheinbar mitten aus dem Sumpf, ein einbeiniger Mann mit einer
Krücke auf.
Bis über den Knöchel war er mit seinem einen Fuß in den Morast eingesunken. Aber offenbar war fester
Boden darunter, denn tiefer sank er nicht.
"He! Bursche! Was soll der Quatsch? Willst du uns alle ins Unglück stürzen? Treib sofort die
Tiere zurück! Oder wir machen dir Beine!"
Die Überraschung machte Ullo für einen Moment sprachlos. Doch er fing sich schnell.
"Wieso soll ich euch unglücklich machen, wenn ich euch Fleisch bringe?"
Er spielte den Naiven - und der Einbeinige sagte prompt: "Wenn Wargos Leute die Reste von ihren
Tieren bei uns finden, werden sie uns töten und unsere Siedlung niederbrennen. Ich weiß, was ich sage,
denn bevor ich mein Bein verlor, gehörte ich selbst zu dieser Bande."
Ullo gab sich jedoch so leicht nicht geschlagen.
"Du scheinst ein vorsichtiger und auch umsichtiger Mann zu sein", entgegnete er ("Gib dem Esel Zucker!")
"Wenn Wargo dich mit dem Bein im Stich gelassen hat, dann sollte man doch überlegen,
wie du wenigstens zu einem Teil deiner gerechten Entschädigung kommen könntest. Komm doch her,
 auf's Trockene! Dann können wir uns besser unterhalten."



Und tatsächlich kam der Mann herüber, um sich mit ihm zu unterhalten.
Nach dem üblichen "Woher" und "Wohin" zeigte sich der Einbeinige sichtlich erfreut über einen willigen
Zuhörer und im weiteren Verlaufe des Gespräches wurde Ullo so manches klar.
Es stellte sich heraus, dass einerseits wegen Wargos Drohungen es zwar keiner wagte, in dessen Gebiet zu
wildern. Dass der aber andrerseits dieser gar nicht genau wissen konnte, wie viele Tiere sich zur Zeit in
dieser überaus wildreichen Gegend gerade aufhielten.
Das gesamte Jahr über kamen nämlich neue Tiere hinzu und andere wanderten ab.
Besonders aber im Winter, wenn die Wölfe über die zugefrorenen Sümpfe kamen, flüchteten viele Tiere
und kehrten erst viel später oder auch gar nicht zu ihren angestammten Standorten zurück.
Die "Moorleute" aber hatten sich Sümpfe und Moore zu Freunden gemacht.
Sie kannten nicht nur alle nahrhaften Kräuter, Wurzeln, Knollen, Samen und Beeren darin. Sie stachen
auch dort im Sommer, auf trockengelegten Flächen, Torf als Brenn- und Baumaterial und hatten bei
dieser Gelegenheit aber auch alle sichtbaren Wege in den Randgebieten des Moores entfernt.
Ullo sah selbst, dass die sicheren Wege, nun unterhalb der Oberfläche, für Fremde nicht mehr zu erkennen
waren. Außer in strengen Wintern, würde es deshalb Wargos Leuten also gar nicht möglich sein, zur
Siedlung zu gelangen.
Den Spruch des Kriegers vom schönen Moormädchen, das er anbieten könne, hielt der Einbeinige daher
für reine Windmacherei.
Die Leute aus der Siedlung trieben zwar noch Handel mit Wargos Sippe, aber das geschah nur zum
Schein, um Ruhe vor ihnen zu haben.
Sie besaßen nämlich längst Fellboote mit denen sie heimlich den Strom überquerten und bei den Leuten
dort Wertvolles, wie z.B. Biberfelle oder Rauschbeeren gegen allerlei Nützliches eintauschten.
Wargos Leute bekamen bei den Scheingeschäften auch nur die Alten und die Krüppel, die er selbst einmal
abgeschoben hatte, zu sehen. - Die Existenz von Kindern und Jugendlichen verschwieg man ihnen
wohlweislich.
Außerdem waren die Moorleute keineswegs so wehrlos, wie sie sich nach außen hin gaben. "Schließlich
war ich, Irmo, selbst ein Krieger und konnte den Leuten so einiges an Kampferfahrung vermitteln ",
meint der Krüppel voller Stolz.
Als der Bulle erneut einen Ausbruchsversuch startete, kam Ullo plötzlich die Idee: "Hör mal", unterbrach
er den alten Recken. "Du erwähntest vorhin trockengelegte Flächen. - Habt ihr die eigentlich nur zum
Torfstechen verwendet und dann liegenlassen ?" -
"Oh, nein" sagte Irmo. "wir haben oft versucht, durch eingestreute Samen dort frische Kräuter und
Knollen für uns wachsen zu lassen. Doch die kamen meistens spärlicher, als Gräser und
Unkräuter."
Als er beim Letztgenannten Ullos Blick auf die Rinder bemerkte, begriff er blitzartig, was Ullo mit seiner
Frage bezweckte und bereits nach kurzem Nachdenken geriet er ins Schwärmen.-
"Aahh!" schrie er. "Du Sohn des listigen Fuchsgeistes, - die Große Mutter persönlich muss dich
hergeschickt haben. - Ständig erstklassiges, frisches Rindfleisch - und lediglich eine große Fläche mit Gras
ist dazu erforderlich und ringsum ein tiefer Abzuggraben, der die Flucht der Tiere verhindert. Sogar
züchten könnten wir damit, wenn wir nur den Bullen auswechseln. - Nur für die Winter müssten wir im
Verborgenen einen Unterstand als Waldersatz bauen.



Das nötige Futter müsste dort in Form von trockenen Kräutern, Zweigen und Gras, zum Winter hin, leicht
zu lagern sein."
Nun so ganz teilte Ullo dessen überschwengliche Vorfreude nicht, denn Trockenfutter, sprich
Heu zu machen, war schließlich mit einem erheblichen Arbeitsaufwand verbunden.
Er hütete sich jedoch, den Optimismus und die aufkeimende Hoffnung durch seine Bedenken
einzudämmen.
Statt dessen packte er seinen Rucksack aus und zeigte Irmo seine Sammlung wertvoller Klingen. - Da
traten dem guten Mann fast die Augen aus den Höhlen..
"Die willst du doch wohl etwa nicht verkaufen? - Oder?" fragte er reichlich dümmlich.
"Nein", sagte Ullo, "verkaufen wollte ich die eigentlich nicht. Sie sollen ein Geschenk sein, an den Vater
meiner Braut!"
"U-und wo wohnt deine Braut? Auf dieser Seite vom Strom?"
"Das will ich doch hoffen" meinte Ullo. "Ich hatte eigentlich gedacht - in eurer Siedlung."
"Nun, heiratsfähig ist in unserem Dorf eigentlich nur meine Ingra. Und außer den kleinen Kindern sind da
nur noch eine Zwölf- und eine Dreizehnjährige. Die haben noch ein paar Jahre Zeit. Meiner Ingra macht
Tugo, mein Neffe, zwar den Hof, aber er ist ein sechzehnjähriger Habenichts, der ihr - außer großer
Armut nichts zu bieten hat. Außerdem sind mir die beiden zu nahe verwandt.
Du aber scheinst nicht nur clever und tüchtig zu sein, du scheinst auch das Herz auf dem rechten Fleck zu
haben.
Meine Ingra soll glücklich werden, das ist mein einziger Wunsch.
Wenn sie dich mag und du magst sie, dann werde ich die Segenswünsche für Euch sprechen.. Aber nicht
wegen der Geschenke.
Doch jetzt müssen wir erst die Herde in Sicherheit bringen. Pass du hier auf ! Ich hole Hilfe!"
Langsam wurde das aber auch Zeit, denn der Stier wurde immer unruhiger.
Es dauerte jedoch nicht lange, bis Irmo zurückkehrte.
Mit ihm kamen ein etwa sechzehnjähriger Bursche, ein Mädchen im gleichen Alter und ein hinkender,
älterer Mann, dem offenbar ein Auge fehlte, denn eine Lederklappe bedeckte seine linke, obere
Gesichtshälfte.
Alle trugen in Schlaufen gelegte, lange Seile über der Schulter, die teilweise aus geflochtenen
Lederschnüren und zum Teil aus gedrillten Fasern bestanden.
Sie riefen Ullo zu, an mehreren Stellen Feuer zu machen, um jede Flucht der Ure aus dem
Sumpf heraus zu verhindern.
Nachdem Ullo eine Kette Häufchen vom Spreu aus den Büschen angezündet hatte, pirschten die
Moorleute von allen Seiten auf den Stier zu. Die geflochtenen Lederschnüre benutzten sie als Wurfleinen.
Und sie hatten Übung damit. Gleich der erste Wurf Irmos fiel dem Stier über die Hörner. Und noch bevor
ihn der Stier von den Beinen (Pardon Krücke-Bein) holen konnte, hatte er das Ende des Lassos bereits
um einen Strauch geschlungen.
Dem Mädchen gelang der nächste Wurf nur Sekunden später von der anderen Seite und auch der
Einäugige und der Junge konnten gleich darauf mit geschickten Würfen ihre Schlingen anbringen.
Jedesmal, wenn der Stier sich gegen den Lassozug auf der einen Seite stemmte, lockerte sich der Zug auf
der Gegenseite und wurde dort von dem Betreffenden sofort gespannt, bis es schließlich für den Stier
keinen Bewegungsfreiraum mehr gab.
Nachdem der Junge ihm einen Lappen über die Augen gebunden hatte, versuchte er diesen zwar erst
durch ruckartiges Kopfhochwerfen loszuwerden, ergab sich dann jedoch, vom
aufgeregten Schnauben einmal abgesehen, völlig apathisch seinem Schicksal.

Er folgte, wenn auch sichtlich widerstrebend dem Zug der Seile.
Es sah aus, als wollten die Leute ihn ins Moor zerren. Doch wieder handelte es sich um einen ihrer
geheimen Wege, denn Menschen und Stier sanken nur etwa knöcheltief ein.
Sehr breit konnte der Weg aber nicht sein, denn die Vier hielten sich dicht beisammen und den Stier ganz
kurz an der Leine
Eine der Kühe roch an der Fährte des Bullen, setzte dann sehr vorsichtig und prüfend einen Fuß in den
Morast und folgte dann präzise der Spur, die wegen der eingedrückten Pflanzen- decke aber auch zu
sehen war.
Als ob die anderen Tiere begriffen hätten, dass dies der einzige feste Weg war, folgten sie ebenso zögerlich
- im Gänsemarsch genau der Spur.
Der Weg führte scheinbar mitten in die Sümpfe, doch nach einiger Zeit tauchten auf der rechten Seite ein
paar flache Hügel mit niedrigen Hütten auf.
Sogar ein paar schlanke Bäumchen wuchsen zwischen ihnen, offensichtlich erst vor einigen Jahren
angepflanzt.
Doch die Vier zogen daran vorbei, weiter in das Moor hinein und mittlerweile war der Weg auch wieder
als solcher zu erkennen.
An vielen Stellen wurde die Arbeit dieser fleißigen Leute sichtbar. Während man in einigen der
trockengelegten Kuhlen gerade Torf stach, hatten sich andere bereits wieder mit Wasser gefüllt und waren
nun kleine Teiche, an deren Ufern bereits wieder Sumpfpflanzen wuchsen.
Trockengelegten Flächen, mit Gemüsekräutern, folgten Areale, die zwar durch Abzuggräben
trockengelegt, aber sonst unbearbeitet waren.
Auf einer dieser Flächen ließen sie den Stier frei, dem die Kühe mit den Kälbern folgten.
Mit hochgestellten Schwänzen flüchteten die Tiere sofort vor den Menschen, - stoppten aber seltsamer
Weise vor den Abzuggräben, die sie mit Leichtigkeit hätten überspringen können. Sie liefen daran entlang
und suchten vergeblich nach einem Übergang.
Lachend sahen Ullo und die Moorleute den vergeblichen Bemühungen der Tiere zu, deren anfängliche
Panik sich langsam legte.
Endlich kam man dazu, sich zu begrüßen. Man lachte sich zu und hielt zum Friedensgruß seinem
Gegenüber die offenen Handflächen in Augenhöhe entgegen.
Diese förmliche Begrüßung ging aber, nachdem Irmo jeden einzelnen vorstellte, in eine freundschaftliche
Umarmung über, bei der man sich gegenseitig auf den Rücken klopfte.
Der Einäugige hieß Wodo und bei der Umarmung von Carn, dem Jungen glaubte Ullo so etwas wie
Abneigung zu spüren.
Doch als die Reihe an Ingra, Irmos großgewachsene, blonde Tochter kam, wurde ihm abwechselnd heiß
und kalt. Ein tiefer Blick in ihre klaren blauen Augen ließ ihn sein Herzu bis zum Halse schlagen. Die
Berührung ihres schlanken, weiblichen Körpers, bei der Umarmung aber raubte ihm fast den Verstand.
Er glaubte jedoch zu sehen, dass es Ingra ähnlich erging, wie ihm selbst. Er hätte gern etwas Nettes gesagt,
doch ihm fiel nichts einer brachte einfach kein Wort heraus.
Deshalb war er regelrecht erleichtert, als Irmo sagte: "So, Kinder! Jetzt wollen wir unseren neuen Freund
den anderen im Dorf vorstellen."
Rasch versperrten sie noch schnell den Grabenübergang mit ein paar Stangen aus der nahen Torfkuhle,
ehe sie sich dem Dorf zuwandten.. Sie liefen zunächst den schmalen Kanal entlang, der das Wasser
sämtlicher Entwässerungsgräben aufnahm und in den Strom ableitete. Er hatte keine nennenswerte
Strömung, weil fast kein Gefälle vorhanden war.
Als sie sich dem Dorfe näherten, kamen ihnen wohl zwei Dutzend Leute entgegen.
War schon der Besuch eines Fremden in der Einsamkeit des weiten Moores ein außergewöhnliches
Ereignis, so ganz besonders von jemand, von dessen gewaltigen Gastgeschenk man sich eine grundlegende
Verbesserung der Lebensqualität versprach.



Jeder versuchte den netten jungen Mann in seine Hütte zu bitten.
Ullo ging selbstverständlich mit Irmo, zu dessen Hütte allerdings in der Hauptsache wohl Ingras wegen.
Alle Hütten waren nach dem gleichen Schema gebaut, wie es auch für Fell- oder Laubhütten angewandt
wurde.
Hier hatte man Schilfdocken auf Stäbe gereiht und diese sich ziegelartig überlagernd an den aufrechten
Stangen befestigt.
Der Rutenkranz, an dem die Stangen oben festgebunden waren, stellte gleichzeitig das Loch für den
Rauchabzug dar und war, wie auch die angrenzenden Schilfdocken, ringsum mit Lehm verschmiert.
Die Docken bildeten durch das Überlagern spanndicke Schilfwände, die absolut regendicht waren und
selbst stärksten Unwettern trotzten.
Der Eingang war lediglich ein offenes Dreieck zwischen den Stangen, das man mit einer Lederdecke
verschließen konnte. Er war so klein, dass man ihn nur gebückt passieren konnte. Der Boden der Hütte
war allerdings sehr primitiv. Er bestand aus einer dicken Schicht trockenen, groben Flusssandes, der das
Hochdringen der Bodenfeuchtigkeit verhindern sollte. Doch die dicken Schilfmatten darüber fühlten sich
trotzdem feucht an.
Deshalb waren die Sitz- und Ruhelager aus stabilem Weidengeflecht, ringsherum an den schrägen
Wänden, auch fußhoch über dem Boden errichtet. Sie waren dick mit trockenem Gras gepolstert.
Die Feuerstelle unter dem Rauchabzug in der Mitte war mit einem Rand aus Lehm eingefasst und auf den
seitlichen Aufbauten aus gebranntem Ton stand ein großer Kochtopf, in dem gerade eine würzige
Fischsuppe kochte.
Die gleißende Glut des Torffeuers darunter gab eine gleichmäßige Hitze ab und reichte auch noch für die
seitlich in der Asche garenden Wurzelknollen vom Schilf und Rohrkolben.
Der Rauchfang darüber bestand aus dick mit Lehm beschmierten Geflecht.
Einige Aale, aber auch andere Fische und kleine Fleischstückchen hingen auf dünnen Spießchen darin.
Ullo vermutete, dass letztere wohl von Wasserratten, Bisams oder Bibern stammten.
Zum Essen wurde der große Kochtopf einfach auf den Boden gestellt und die Familienangehörigen
setzten sich im Schneidersitz ringsherum. Ullo wurde der Ehrenplatz zwischen Irmo und seiner Frau
zugewiesen. Durch unauffällige Zeichen hatte diese Ingra bedeutet, die Rolle der Gastgeberin zu
übernehmen.
Nachdem Ingra die großen Muschellöffel und die gerösteten Wurzeln verteilt hatte, dankte ihre Mutter der
'guten Mutter Erde', mit kräftiger, klarer Stimme für ihre Gaben - und wünschte allen einen guten
Appetit.
Die Unterhaltung kam trotz des Essens keineswegs zu kurz. Es gab einfach zu viel zu fragen und zu
erzählen. Irmos Kopf war so voller Pläne und Wunschträume wegen 'seiner' Rinder, dass er gar nicht
daran dachte, dass auch andere Pläne und Wünsche hatten.
Entgegen Ullos Meinung sah aber auch er die Schwierigkeiten durchaus realistisch. So waren die riesigen
Vorräte an Trockenfutter zum Winter, nach seinen Worten, noch nicht einmal das größte Problem. Die
Tiere mussten schließlich auch in die Winterverstecke, die Hügel des unwegsamen, dornigen 'Unlandes'
getrieben werden.
Er konnte einfach kein Ende finden mit seinen Plänen und Träumen. Schwärmerisch sprach er davon,
einmal die kleine Herde durch Zucht zu vergrößern.
Verstohlen musterte Irmo Nargisa, Ingras Mutter, die ihre linke Gesichtshälfte mit einem dünnen
Lederstück verdeckt hatte. Trotzdem lugten bei deren lebhaften Kopfbewegungen ab und zu die Ränder
von brandroten Narben darunter hervor.



'Auch eins von Wargos Abschiebe-Opfern', dachte Ullo bei sich. Die rechte Gesichtshälfte genügte jedoch
vollkommen aus, um Ullo die Schönheit und Intelligenz dieser Frau erkennen zu lassen.
Da sie sich über den eigentlichen Zweck von Ullos Besuch völlig im Klaren war, und nach
eingehender Beobachtung auch Vertrauen zu ihm gewonnen hatte, unterbrach sie Irmos neues
Lieblingsthema auf recht diplomatische Art.
"Ich bin überzeugt davon, lieber Irmo, dass all deine Pläne gut sind und sich auch verwirklichen lassen.
Aber vielleicht hat der junge Herr Ullo in seiner Heimat bereits Erfahrungen in der Zucht von Uren
machen können.
Erzähl doch einfach mal, junger Mann! Wo ist deine Heimat? - Wie ist es dort? Gut oder weniger gut? -
Armut leidest Du scheinbar nicht! Was aber trieb dich in die Fremde?"
Endlich bekam Ullo Gelegenheit, seine Wünsche vorzubringen. Er warf Nargisa einen Verständnis
innigen, dankbaren Blick zu. Dann erzählte er von zu Hause:
Nein, - Rinder hätten sie nicht gezüchtet. - Doch er schilderte die Schönheit der Berge und den
Fischreichtum des Sees.
Die Freiheit in dem riesigem Gebiet seiner Sippe und die Sicherheit des Pfahldorfes.
Den Wildreichtum der Wälder und die reichen Ernten an Wurzeln und Kräutern, Pilzen und Eckern,
Beeren und Nüssen.
Nur eines fehlte ihm zu seinem Glück: -- Eine Frau! --
So sei er losgezogen, um für sich eine Lebensgefährtin zu suchen und heimzuholen. Möglichst in Frieden
und gutem Einvernehmen mit deren Familie, auch, wenn das nicht den Prinzipien seiner Sippe entspräche.
Und nur dann, wenn es gar keine andere Möglichkeit gäbe, habe er sogar eine Entführung in Betracht
ziehen müssen.
Durch die zynische Bemerkung von Wargos Posten über das "Moormädchen" als Handelsobjekt, sei ihm
jedoch erst richtig klar geworden, wie entwürdigend es doch wäre, die künftige
Mutter seiner Kinder wie eine Handelsware zu kaufen oder wie einen Gegenstand zu rauben.. Deshalb
beschloss er - entgegen der Tradition - um seine künftige Braut zu werben.
"Ingra!" wandte er sich dann direkt an das Mädchen. "Als ich Dich sah, wusste ich sofort, die - oder keine
- und deine Berührung raubte mir fast die Sinne. - Ingra! - Ich liebe dich und ich könnte ohne dich nicht
mehr leben! - Deshalb frage ich dich. Könntest du mich gern genug haben, um dein Leben mit mir zu
teilen? - Möchtest du deine Kinder nicht sorgenfrei aufziehen in einem wunderschönen Land? - Ich bitte
dich, komm mit mir und werde meine Frau!" Als er dann auf sie zutrat und sie zu sich emporzog, schlang
sie impulsiv die Arme um seinen Hals und küsste ihn. Völlig unbefangen sahen beide sich tief in die
Augen.
Leise, aber klar und deutlich antwortete Ingra: "Ich liebe dich auch, Ullo! - Auch ich habe vom ersten
Augenblick an gedacht, 'der und kein anderer' - und ich werde mit dir gehen, als deine Frau! - Aber
würde es dich nicht reizen, hier zu helfen eine starke Gemeinschaft auf- zubauen?"
"Doch", antwortete Ullo, "reizen würde mich das schon. Aber einerseits wird unter deines Vaters Führung
schon in einigen Jahren aus all den Kindern und Jugendlichen - auch ohne meine Hilfe eine enorm starke
Gemeinschaft entstehen.
Andererseits könnte ich es mir mein Leben lang nicht verzeihen, wenn ich meiner Frau und meinen
Kindern all die Schönheiten vorenthalten hätte, die meine Heimat nun einmal zu bieten hat."
Bei aller Liebe zu Ullo fiel es Ingra doch sehr schwer, am Tage darauf ihre Eltern und ihre sechs kleinen
Geschwister zu verlassen.



Alle Dorfbewohner hatten sich versammelt, um die beiden zu verabschieden - nur von Carn war nichts zu
sehen.
Staunte Ingra, die ja das Moor nie verlassen hatte, schon beim Durchqueren von Wargos Waldrevier, so
kam sie in unserer Bergheimat aus dem Staunen nicht mehr heraus.
Ich fand Ullos Braut auf Anhieb sympathisch und auch alle anderen schienen sie gerne zu haben.
Alle halfen, Ullos neue Hütte schnell wohnlich zu machen. Wir Frauen kleideten Boden und Wände mit
Matten und Fellen aus und die Männer bauten in Rekordzeit aus Lehm, Geflecht
und Holzplanken das Herdfeuer und den Rauchfang, die Regale und das Ruhelager.
Für die Hochzeitsfeier hatte jeder seine besten Kleidungsstücke hervorgeholt. Alle klatschten, als Ullo
seine Braut nach einem langen Kuss dann in seine Hütte trug und damit die Feier eröffnete.
Bis tief in die Nacht hinein wurde gegessen, getrunken, gesungen und gelacht.. Unser neuer 'Dorfplatz', in
der Mitte der vier Plattformen, eignete sich hervorragend für eine große Feier wäre allerdings ohne die
neue Plattform für unsere Hütte noch gar nicht vorhanden.
Eine dicke Lehmschicht in dessen Mitte machte es möglich, dass nach Einbruch der Dunkelheit ein Feuer
entfacht werden konnte.
In weinseliger Stimmung begannen die "Alten" einen uralten, eintönigen Gesang und alle klatschten im
Takt dazu und drehten sich stampfend im Kreise
Der Alkohol heizte die Stimmung an, ließ aber Eunas alten Groll gegen Urs, deinem Vater, ebenfalls
wieder aufleben.
Es waren lauter versteckte Nickeligkeiten, mit denen er Urs traktierte.- Hier ein Tritt in die Waden, da ein
Ellbogencheck in die Rippen. Ein vorgetäuschtes Torkeln, um ihn von der Plattform zu drängen usw.
Bis dein Vater, Urs, den "Spaß" mitmachte und Gleiches mit Gleichem beantwortete - nach dem uralten
'Naturgesetz': "Geben macht viel seliger als Nehmen!"
Eunas geriet dadurch in extreme Wut.- Fühlte er sich dem "kleinen Urz" doch - trotz dessen enorme
Kräfte - (ursus - Bär) haushoch überlegen.
Deshalb versuchte er, nach einem harmlosen Bodycheck deines Vaters, diesen mit einem gewaltigen
Schwinger niederzuschlagen. Durch dessen schnelle Reaktion wurde jedoch nur ein gewaltiger Heumacher
daraus. Dadurch verlor Eunas auch den letzten Rest seiner Hemmungen - und er schlug wie ein Wilder
auf Urs ein.
Für die angetrunkenen Männer war die Schlägerei eine willkommene Abwechslung.
Sie feuerten sowohl Eunas als auch Urs durch Zurufe an. Urs zog sich keineswegs zurück.
Er griff Eunas plötzlich mit beiden Händen unter die Achseln, und drückte mit aller Kraft gegen ihn, als
wollte er ihn wegschieben. Prompt antwortete Eunas mit einem gleich starken Gegendruck. Doch
blitzschnell ließ Urs sich nach hinten über fallen und machte den Rücken dabei rund. Dabei hob er Eunas,
der vom eigenen Druck bereits vorwärts schoss, auch noch an, so dass dieser sich überschlagend in hohem
Bogen über ihn hinwegsauste, in der Nähe der Plattformkante aufschlug und dann ins Wasser plumpste.
Johlend feierten alle den spassigen Sieg von Urs. Lachend füllten sie die Hörner neu und tranken ihm zu.
Jeder nahm an, dass Eunas sich nun beschämt zurückziehen würde und fassten es als zusätzlichen Jokus
auf, als Urs nun ebenfalls ins Wasser hechtete.
Siehst du, mein Kleiner! - Heute weiß ich, dass außer deinem Vater und mir nur noch der junge Koro,
erfasste, was wirklich passiert war.
Eunas konnte zwar angreifen, doch bei dem 'Fallrückzieher' deines Vaters zeigte er noch nicht einmal die
Andeutung einer Reaktion. Völlig teilnahmslos sauste er, sich überschlagend durch die Luft und schlug mit
dem Nacken auf die Kante der Plattform. Dein Vater hatte den ungebremsten, eigenen Schwung des Gegners
total unterschätzt.

Als ich dann auch in eins der Boote sprang, waren bereits alle wieder so in die Feier vertieft, dass niemand
auf mich achtete.
Ich half Urs, den schweren Eunas in das Boot zu hieven.
Sein Kopf rollte haltlos hin und her, Puls und Atmung konnte ich nicht mehr wahrnehmen.
Wahrscheinlich hatte er sich bei dem Aufschlag das Genick gebrochen, dennoch versuchten wir eine
Wiederbelebung.
Im Sichtschatten einer Hütte zogen wir Eunas auf die Plattform. Doch Herzmassage, Pumpen,
Mund-zu-Mund-Beatmung, alles war vergeblich. - Eunas gab kein Lebenszeichen mehr von sich.
Ich geriet in Panik und meine Gedanken rasten! - Den Unfall hatte Eunas doch wohl selbst heraufbeschworen!
- Aber wie sahen es seine Eltern und Brüder? - Urs hatte ihn schließlich im Streit
getötet!
"Urs! - Die Blutrache! - Wir müssen fliehen!", war deshalb meine erste Reaktion und er sah das auch so:
"Du hast Recht, ich muss fort! - Aber du bleibst hier bei deiner Familie! - Denk an das Kind unter deinem
Herzen!"
"Das Kind ist unser Kind! Und ich gehöre zu dir! - Auch in Notlagen! Basta!" Damit raffte ich einige
Sachen zusammen, fasste Urs, der wie betäubt dastand, an den Arm, zog ihn zum Boot und sagte: "Komm
jetzt rasch! - Jede Sekunde ist kostbar! - Denn Onkel und Vettern sind sehr gute Jäger!"
Möglichst leise stießen wir ab und bemühten uns, im Sichtschatten der Hütten ebenso leise fortzurudern,
bis die Umrisse der Hütten im Feuerschein nur noch schemenhaft zu sehen waren. Doch was war das?
Plätschern und Ruderknarren hinter uns! - Wir wurden verfolgt!
Mit aller Kraft legte Urs sich in die Riemen und der Abstand wurde rasch größer.
Doch dann hörten wir Koros jugendliche Stimme:
"Hajooo! Uuurs und Kaaara! Wartet dooch! - Ich komme miiit!"
Sofort unterbrach dein Vater das Rudern. "Warten wir", sagte er, "Koro legt uns niemals herein. Er ist ein
echter Freund."
Als er herankam, sahen wir, dass er die restlichen beiden Boote im Schlepp hatte.
So aber hatte Eunas Familie keine Gelegenheit mehr, uns direkt zu verfolgen.
Denn ausreichend bewaffnet, konnte schwimmend keiner das Nordufer des Sees erreichen.
Der kürzeste Umweg zu Fuß, aber führte über das Westufer und das bedeutete etliche Stunden
Fußmarsch.
"Mensch Koro! - Von wegen Halbstarker! Du handelst mit der List und Weisheit eines alten Kriegers. Du
hast uns mindestens vier Stunden Vorsprung verschafft!"
Koro grinste wie ein großer Junge (der er ja eigentlich auch war) "Es wird aber auch Zeit, dass ihr in eurer
Panik einen weisen Ratgeber bekommt. In der Bucht, auf die ihr zusteuert, würde
man eure Spuren sofort finden. Rudern wir weiter nach Osten. Wo der kleine Bach einmündet, ist es
felsig. Außerdem treibt die Strömung die Boote weit genug ab, so dass keiner weiß, wo wir an Land
gegangen sind!"
Ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Von dieser Seite hatte ich meinen "kleinen" Bruder ja noch
nie kennengelernt.
Also gingen wir direkt neben der Bachmündung an Land - Auf dem felsigen Ufer hinterließen wir
tatsächlich keine Spuren.



Wir entnahmen den Booten, was Koro noch schnell wahllos zusammengerafft und hineingeworfen hatte:
Essensachen und zwei Ledersäcke.
Die leeren Boote schoben wir dann in die Strömung des Baches, die bis weit in den See hineinreichte. Sie
trieben zwar nur langsam ab, doch wir hofften, dass sie mit zusätzlicher Hilfe des Windes im Laufe der
nächsten Stunden wohl ein mächtiges Stück nach Osten abgedriftet würden.
Nicht nur wegen des erreichten Vorsprungs war es für deinen Vater und mich ein großes Glück, dass Koro
sich uns anschloss. Denn dein Vater war noch zu fremd hier und auch ich kannte mich hier auf der felsigen
Nordseite des Sees nicht aus. Ich war zwar an den verschiedensten Uferstellen gewesen, aber immer nur
da, wo es was zu sammeln gab.
Koro dagegen war von Kindheit an dauernd unterwegs, und weil er immer seinen Teil an Wurzeln, Pilzen,
Eiern oder Beeren heimbrachte, ließ man ihn gehen, wohin er mochte. So war es kein Wunder, dass er
sich auch hier auskannte.
Wir folgten dem Bach ein Stück bergan, stiegen dann aber weiter, in nördliche Richtung.
Im diffusen Licht, das bereits den herandämmernden neuen Tag ahnen ließ, ragte im Nordosten der
höchste Berg dieser Gegend vor uns auf.
"Ich war schon dort auf dem Gipfel", sagte Koro. "Von da kann man bei klarem Wetter die ganze Region
überblicken.
So weit das Auge reicht, erstrecken sich die Berge nach allen Seiten. Nur weit im Norden sieht man keine
hohen Gipfel mehr.
Dort gehen die Berge, dem Anschein nach, in sanfte Hügel über.
Weil meistens ein Dunstschleier darüberliegt, würde das auf ein Feuchtgebiet oder einen Fluss hindeuten.
Vor kurzem war jedoch mal vollkommen klare Sicht und da erschienen mir die Hügel dunkelgrün. - Also
Feuchtigkeit ,Wälder vielleicht! - Steppen und trockene Gebiete wären um diese Jahreszeit ja schon
braun..
Dann gibt's aber wahrscheinlich dort Jäger und Sammler, die uns verraten könnten. So bleibt uns wohl
keine Wahl, als im Osten durch die Berge zu fliehen. Denn von Westen kommen die Verfolger und im
Süden zieht sich der See endlos weit hin."
"Durch die Berge zu gehen, halte ich aber für falsch," widersprach ihm Urs sofort. "Ich bin schließlich im
Gebirge aufgewachsen und weiß daher, dass unsere Kraft nicht lange reichen würde, sollten wir versuchen,
ununterbrochen über die Kuppen und Grate der Bergkämme zu kraxeln.
In den Tälern aber wohnen und leben die Menschen. Es dürfte schwieriger werden, dort unbemerkt zu
bleiben, als in ausgedehnten Wäldern.
Auch für Cara dürfte der Weg durch die Wälder mit weniger Strapazen verbunden sein. Allerdings müsste
stets einer von uns Männern als Kundschafter vorausgehen.
Noch wichtiger ist es aber Spuren zu vermeiden und gegebenenfalls zu verwischen.
Den Verfolgern keinen Hinweis zu liefern - ist wichtiger als Eile.
Lasst uns bis zum Tagesanbruch nach Norden ziehen und uns dann entscheiden. - Was meint ihr?"
Koro und ich waren einverstanden.
Bereits nach zwei Stunden hatten wir die felsige Kuppe überwunden und befanden uns noch vor
Tagesanbruch im nördlichen Berghang. Der war zwar dicht mit Büschen und Kräutern
bewachsen, doch an vielen Stellen war auch nackter Fels zu sehen.
Wir bemühten uns, ja nur keinen Zweig zu knicken oder das Moospolster aufzureißen.
Es war wirklich nicht einfach keine Spur zu hinterlassen.
Urs lief ständig ein großes Stück voraus und ich folgte in Sichtweite.
Koro, als Rückendeckung, hatte möglichst alle sichtbaren Spuren zu tilgen.



Das Tal, in das wir dann gelangten, war ebenfalls mit Wald und dichtem Unterholz bewachsen. Es führte
ausgerechnet in nördliche Richtung und trotz seiner vorhin ausgesprochenen Bedenken folgte Urs dem Tal
entlang dem Fuße des östlichen Hanges.
Er mied die Talsohle, weil wir dort in dem sumpfigfeuchten Boden unweigerlich unsere Spuren
hinterlassen würden.
Das Tal zog sich länger hin, als ich es von der Aussicht oben am Berge her in Erinnerung hatte. Hier unten
lag es zwar noch im Frühdunst, doch oben flutete das erste Sonnenlicht bereits über den Kamm des
Bergrückens.
Ich sah, dass Urs sofort ein wenig hangaufwärts zog, als sich leichter Rauchgeruch bemerkbar machte und
seine Körperhaltung verriet mir seine gespannte Aufmerksamkeit beim Vorwärtspirschen.
Augenblicklich verschwand ich unter den Zweigen eines dichten Haselbusches, als Urs warnend die Hand
hob.
Ein Blick zurück - von Koro war nichts mehr zu sehen und als ich wieder nach vorn sah, war Urs
ebenfalls verschwunden.
Gespannt lauschend blieb ich liegen und wartete auf ein Zeichen von ihm.
Plötzlich hörte ich Kinderlachen, das rasch näherkam. Zwei kleine Jungen alberten miteinander herum,
In der einen Hand trugen sie einen Knüppel, mit dem sie fortwährend spielerisch in die Büsche hauten
und in der anderen einen Korb, in den sie wohl Essbares sammeln sollten. Sie
waren so sorglos, dass sie in zwei Schritten Entfernung an mir vorbeigingen ohne mich zu bemerken.
Allerdings hätten sie schon Strauch hineinsehen müssen, um mich zu entdecken. Von Koro sahen sie
natürlich genauso wenig.
Langsam entfernten sie sich immer mehr - bis ich nichts mehr hören konnte.
Plötzlich spürte ich eine Hand an meinem Arm und fuhr fürchterlich zusammen, denn ich hatte weder
etwas gesehen, noch gehört. Doch erleichtert atmete ich tief durch - es war Urs, der sich unbemerkt neben
mich geschoben hatte.
Mit dem Finger an den Lippen deutete er mir an, leise zu sein. Dann hob er einen Arm aus dem Strauch
und Sekunden später kam Koro - ebenso geräuschlos wie Urs.
"Eine Siedlung - keine zweihundert Schritte! - Überall Sammler! Jäger nicht zu sehen! Wir müssen direkt
bergan schleichen!"
Er raunte es kaum hörbar und dennoch verstand ich alles. Urs erhob sich sehr vorsichtig, spähte intensiv
in alle Richtungen und rannte dann geduckt bis zur nächsten Buschgruppe bergaufwärts.
Von dort spähte er erneut sorgfältig Umgebung aus und gab uns dann ein Zeichen ihm zu folgen. Dieses
Spiel wiederholten wir solange, bis der Berghang felsiger wurde und wir vor Überraschungen durch die
Siedlungsleute ziemlich sicher waren.
Ich hatte zwar bemerkt, dass Urs beim Aufstieg stets nach Norden, also am Dorf vorbeigezogen war.
Dass der Rauch nun aber bereits soweit entfernt in südwestlicher Richtung unter uns aufstieg, versetzte
mich dann doch in Erstaunen.
Urs lachte und meinte: "Wenn wir aus allen künftigen Begegnungen so unbemerkt und ungeschoren
herauskommen, dann können wir wirklich von Glück reden.
Dieser langgestreckte Bergkamm ist ja einigermaßen begehbar. Deshalb werden wir hier oben vorsichtig
weiter nach Norden ziehen, bis wir ein sicheres und bequemes Versteck gefunden haben. Dann werden
wir erst einmal so lange wie nötig schlafen.
Schließlich taugt auch der beste Krieger nichts, wenn er übermüdet ist."
Es war schon fast Mittag, als direkt vor uns ein Rudel Mufflons aus einer geschlossenen Farnfläche,
zwischen den Felsen davonjagte.



An die äußerst scheuen und wachsamen Tiere konnten wir jedoch nur so nahe herankommen, weil wir
uns noch immer mit äußerster Vorsicht, fast schleichend, bewegten und weil der Wind unsere Witterung in
die Gegenrichtung trug.
Andererseits hätten wir aber die Tiere gar nicht entdecken können, wenn sie einfach ruhig liegen geblieben
wären.
Wir konnten vollkommen sicher sein, dass sich zumindest aus der Richtung des Windes in nächster Zeit
weder ein menschlicher, noch ein tierischer Räuber nähern würde, weil die geflohenen Tiere aus dieser
Richtung jede Witterung meilenweit aufnehmen konnten.
Nachdem wir uns in das dichte, hüfthohe Farnkraut gelegt hatten, waren wir, genau wie die Wildschafe,
sozusagen unsichtbar.
Man hätte schon über uns stolpern müssen, um uns zu bemerken. Nach kurzem Imbiss und einem
Schluck aus der Lederkruke von dem mittlerweile stark verdünntem Wein, wurden wir augenblicklich
vom Schlaf überwältigt.
Kein Wunder, waren wir doch, inklusive Hochzeitsfeier, seit über dreißig Stunden auf den Beinen.
Mit steifgefrorenen Gliedern wurde ich mitten in der Nacht wach, weil wir uns, nur leicht bekleidet
hingelegt hatten. An Schlafsäcke hatten wir in unserer Panik natürlich auch nicht gedacht.
Koro gingen die geflüchteten Wildschafe nicht aus dem Kopf. "So ein schöner, dicker Mufflonpelz von
einem der Tiere, das wäre schon was gewesen!" meinte er. Aber an Jagd durften wir in den nächsten
Tagen gar nicht denken.
Wir reckten die steifgefrorenen Glieder. Ein paar kräftige Bewegungen! Das Blut geriet langsam in
Wallung und das Zähneklappern hörte endlich auf.
Schnell ein paar Bissen aus den Rucksäcken und ein paar Schlucke Wasserwein. Und weiter ging's mit
neuen Kräften.
In den nächsten Stunden legten wir ein scharfes Tempo vor, und erst im Morgengrauen begannen wir
wieder, vorsichtig mit Vorhut und Nachhut voranzugehen, weil nämlich zu dieser Zeit die meisten Jäger
bereits mit der Pirsch begannen.
Der Bergrücken wurde zwar immer flacher, aber hier oben gab es kein Wasser und auf eine menschliche
Siedlung würde wir deshalb wohl kaum stoßen.
Weit nach Tagesanbruch drangen wir am Fuße seiner nördlichen Ausläufer endlich wieder in den Wald
ein. Unterhalb einer Felsgruppe entsprang ein Bächlein, besser gesagt ein Rinnsal. Das Wasser aber war
kristallklar. Wir tranken uns satt an dem frischen Wasser, schütteten den Rest des schalen
Weinwassergemisches aus und füllten auch die Lederflasche damit.
In dieser Gegend gab es so viel Wasser, Wild und Waldfrüchte aller Art, dass wir erwarteten, jeden
Moment auf eine menschliche Ansiedlung zu stoßen.
Doch als wir am Nachmittag das Waldgebiet verließen, hatten wir nicht eine Spur einer menschlichen
Anwesenheit entdeckt, - oder auch nur den Rauch eines Lagerfeuers geschnuppert.
Urs vermutete, dass dieses Gebiet das Jagdrevier eines mächtigen Fürsten sei, weil es trotz der
Abgeschiedenheit dieser Gegend niemand wagte, hier zu sammeln und zu jagen.
Wir hatten unterwegs einige Beeren und frühe Pilze in die Taschen gesteckt, die uns nun zum
mitgebrachten kalten Fleisch und Fladenbrot prächtig mundeten.
Der nächste, nicht sehr hohe Bergrücken vor uns war felsig und an vielen Stellen völlig kahl. Deshalb
nahmen wir unseren Weg in nordwestliche Richtung zwischen Wald und dem felsigen Höhenzug.
Gegen Abend kletterte Koro an einer bewachsenen Stelle auf den Berg, um Ausschau zu halten. Sehr
rasch kam er zurück.



"Etwa eine Stunde vor uns steht eine Rauchsäule über den
Bäumen. - muss ein großes Feuer sein. - Wenn der Wind nicht gedreht hätte, hätten wir es wahrscheinlich
gerochen. - Am besten ist es wohl, wir bringen den Bergrücken zwischen uns und den Leuten da am
Feuer. Das dürfte an dieser Stelle kaum schwierig sein, denn der Berghang auf der anderen Seite ist
ebenfalls bewachsen "
Wir machten es so, wie Koro es geraten hatte. Oben, vom Berge aus blickten wir auf eine hügelige, karge
Landschaft auf der anderen Seite, die sich in nordöstliche Richtung bis zum Horizont erstreckte.
Für die Nacht fanden wir am Nordosthang eine dichtbewachsene Mulde, in der wir uns sicher fühlen
konnten.
Das Durchqueren des Ödlands am Tage darauf, erwies sich dann doch als nicht so gefährlich, wie es
vom Berg aus den Anschein gehabt hatte.
Urs oder Koro bestiegen abwechselnd einen der nächsten Hügel vor uns, um das Überqueren der nächsten
Steppenregion zu sichern.
Einmal flüchtete vor uns ein Rudel kleiner brauner Schafe. Im Gegensatz zu den Mufflons, die wir
kannten, besaßen sie jedoch einen wolligen Pelz. Schon nach wenigen Augenblicken waren sie
verschwunden.
Am Nachmittag wurde das Land ebener - die Vegetation nahm zu. Es senkte sich langsam aber stetig
einem Flusstal zu. Die erst einzeln stehenden Bäume und Buschgruppen vereinigten sich schließlich
vielerorts zu dichten Wäldchen..
Immer öfter flüchtete Wild vor uns. - Größte Vorsicht war hier geboten! - In dieser satten Gegend musste
es einfach Menschen geben.
Wir waren noch nicht ganz in den nächsten, dichten Wald eingedrungen, als dein Vater plötzlich stehenblieb
und auf seine Nase deutete. Er hatte den Rauchgeruch eines Feuers wahrgenommen. Im
gleichen Moment, als er sich umwandte, fuhr ihm von strauchbewachsenem
nahen Hügel ein Pfeil seitlich durch sein Jagdhemd und nur der plötzlichen Drehung verdankte er
wahrscheinlich sein Leben.
Der gut gedeckt lauernde Wächter hatte natürlich alle Vorteile auf seiner Seite.
Blitzschnell warfen wir drei uns deshalb deckungsuchend zu Boden.
Aber während Koro und ich im niedrigen Gestrüpp sofort Deckung fanden, lag dein Vater völlig
deckungslos im kurzen Gras.
Hinter mir raschelte es leise. Koro machte sich auf den Weg zu dem heimtückischen Schützen. -
"Gut Freund! Sind auf der Durchreise!" schrie Urs. Schnellte aber im selben Augenblick zur Seite. Das
war sein Glück Denn schon hatte der Schütze ihn erneut anvisiert und geschossen. Der Pfeil steckte genau
an der Stelle, an der er gerade noch gelegen hatte.
Doch schon fuhr der dritte Pfeil auf ihn zu. Das abgeweidete und daher besonders dichte
Weidenbüschchen, das ihm nur wenig Deckung bot, lenkte jedoch den Pfeil etwas ab, so dass 'nur' sein
Rücken gestreift wurde.
Urs blieb jedoch ununterbrochen in Bewegung. Zwar auf dem Bauch, aber schnell wie eine Schlange,
wand er sich hinter höhere Büsche und war nun für den Schützen nicht mehr zu sehen.
Der schoss dann auch keine sinnlosen Pfeile mehr ab, sondern lauerte auf seine Chance.
Wie sehr er sich mit Koro verstand, bewies dein Vater, als er seine Streitaxt in Richtung des Schützen in
die Büsche schleuderte, um ihn von Koro abzulenken. - Prompt kam von dort ein Pfeil und ging ins
Leere, denn Urs lag bereits wieder hinter dem Strauch.
Auch ich begriff nun, was gespielt wurde und schickte ebenfalls einen Pfeil in Richtung des Schützen,
wenn ich ihn auch nicht direkt sehen konnte, im gleichen Moment wie Urs seinen Faustkeil.



Mehr brauchten wir allerdings auch nicht zu tun, denn ein hoher spitzer Schrei, der gurgelnd erstarb,
bewies, wie lautlos sich Koro als Kämpfer bewegen konnte.
Er war kein Risiko eingegangen und hatte auch dem mörderischen Schützen keine Chance gelassen.
Dass der Schütze nur eine Wächterfunktion haben konnte, war uns allen völlig klar. Daher war es auf dem
Hügel auch sofort wieder völlig still.
Urs und ich aber sprangen augenblicklich in höheres Gebüsch, das uns vollkommen verbarg.
Dein Vater hielt sich nun natürlich in meiner unmittelbaren Nähe auf, um mich notfalls beschützen zu
können.
Ich machte Pfeil und Bogen schussbereit und Urs seine Steinschleuder, denn schon tauchten am Waldrand
zwei Gestalten auf, die wohl die Rufe und den Schrei gehört hatten.
Sie schossen ihre Pfeile in unsere Richtung ab und waren dann so plötzlich, wie sie auftauchten, auch
wieder verschwunden. Wie vom Erdboden verschluckt.
Unruhig gespannt und ständig nach allen Seiten sichernd warteten wir auf die Angreifer.
Dass dein Vater wesentlich schärfere Sinne besaß als ich, konnte ich schon sehr bald feststellen.. Denn
ich sah, wie sich sein ganzer Körper plötzlich sprungbereit spannte und er den Arm mit der Steinschleuder
wurfbereit hielt.
Aus für mich unerklärlichen Gründen fuhr er kurz danach urplötzlich hoch und schleuderte schon beim
Hochschnellen den Stein mit ungeheurer Wucht los.
Eine Gestalt ruckte keine zehn Schritte vor uns aus den Büschen hoch und fiel mit zerschmettertem
Schädel in sich zusammen.
Als im selben Moment eine weitere Gestalt mit erhobener Streitaxt ganz dicht daneben aus den Büschen
hochfuhr und sofort die Axt niedersausen ließ, spannte ich fast automatisch den Bogen und zielte.
Doch mitten in der schnellen Spannbewegung erkannte ich Koro und ließ - noch gerade rechtzeitig den
Bogen wieder sinken.
Koro hatte, entgegen meiner Meinung, keineswegs still auf dem Hügel gelauert, sondern war sofort -
lautlos und schnell - den Angreifern in den Rücken geschlichen und hatte sich an ihre Fersen geheftet. So
konnte er den zweiten Angreifer überraschen.
Es war klar, dass wir uns nun zuerst um unsere Sicherheit sorgen mussten.
Also kümmerten wir uns zunächst nicht um die toten Angreifer, sondern drangen schnellstens in den Wald
ein.
Ich folgte den beiden Männern und bemühte mich, genauso leise zu sein wie sie. - Das gelang mir jedoch
nicht ganz, denn dazu fehlte mir einfach die Übung.
Deshalb versteckten mich die beiden unter einem dichten Strauch, so dass ich von außen nicht mehr zu
sehen war, und durchforschten dann die Gegend nach möglichen weiteren Feinden
Schon nach relativ kurzer Zeit, die mir jedoch endlos erschien, holte Urs mich aus meinem
Versteck wieder ab.
"Du kannst unbesorgt sein," sagte er. "Die drei waren hier zum Jagen und haben in der Nähe des Flusses,
nur ein paar hundert Schritte von hier, einen Wisentbullen aus der Decke geschlagen. Die ganze
Jagdgesellschaft bestand nur aus diesen drei skrupellosen, mordlustigen Burschen.
Wir haben alle zusammen in eine Mulde gelegt und decken sie später mit Steinen zu.
Das Feuer der fremden Jäger glitt über ein paar flachen Findlingen.
Sie hatten den Wisent sehr sauber enthäutet, wie ich sofort sah. Auch das Fleisch lag bereits, von den
Knochen abgelöst, auf der Haut. Nur die riesigen Keulen wollten sie offensichtlich am Stück forttragen.



Den Bullen hatten sie wahrscheinlich mit der 'großen Steinschleuder' erlegt, denn das Fell hatte kein Loch,
wie das bei einer Stichwunde entstanden wäre.
Gerade dachte ich, dass wir jetzt eine schöne Decke gegen die nächtliche Kälte hätten, als Koro mit einem
großen Arm voll Schilf angetrabt kam, es ausbreitete und die Fleischstücke darauf legte.
"Kara, wir bauen aus dem Fell ein Boot", verkündete er zu meiner Enttäuschung.-. "Heute nacht
schippern wir den Fluss hinunter. Wir werden ab sofort tagsüber schlafen, uns nachts im Boot flussabwärts
treiben lassen und brauchen überhaupt nicht mehr zu laufen. Ist das nicht herrlich - Schwesterlein?"
An die Gefahren, die wir gerade erst überstanden hatten, und die Gefahren die noch auf uns zukamen,
verschwendete er scheinbar keinen einzigen Gedanken. "Urs holt schon die Stangen und Ruten für das
Gestell", verkündete er frohgemut. "Während wir das Boot bauen, brate du schon mal Fleisch zum
Mitnehmen und mache uns ein schönes Abendessen! - Schade, dass wir hier so viel liegenlassen müssen!"
Zusammengerollt und mit einem der umherliegenden Lassos umwickelt und wuchtete er sich die schwere
Bullenhaut dann auf die Schulter und lief er ohne ein weiteres Wort zu verlieren in Richtung Fluss in die
Büsche.
Ich war allein und betrachtete gedankenverloren das Feuer, das Fleisch und die umherliegenden
Gegenstände der Fremden.
Erschauernd dachte an die gerade überstandene Lebensgefahr - die Todesnähe in die uns diese Fremden
brachten und an deren sinnlosen Tod, der die zwangsläufige Folge ihrer Aggression war.
Die Gedanken sprangen automatisch über auf die gleichfalls völlig sinnlose Blutrache, vor der wir jetzt
flohen. - Diese Gedanken ernüchterten mich aber augenblicklich und ich besann mich auf das, was zu tun
war.
Zuerst warf ich haufenweise Holz auf das niedergebrannte Feuer um möglichst viel glühende Asche zu
bekommen, weil ich nur damit einen essfertigen Fleischvorrat für mehrere Tage schnell genug garen
konnte. Schneller jedenfalls, als einzelne Stücke am Drehspieß über dem Feuer.
Außerdem hielt sich das Fleisch mit einer Ascheglut-verkrusteten Oberfläche viele Tage lang frisch.
Es war jedoch vorteilhaft, das Fleisch vorher in große Blätter einzupacken, weil es darin beim Garen nicht
so trocken wurde und man auch nicht soviel als "verkohlt/ ungenießbar" wegwerfen musste.
Koros scheinbare Sorglosigkeit aber teilte ich keineswegs, denn die drei Jäger konnten genau so gut die
Vorhut einer größeren Gruppe, wie allein jagende Fleischbeschaffer sein.
Das mächtige Feuer würde schnell niederbrennen und deshalb beeilte ich mich, das Nötigste
herbeizuholen.
Riesengroße Blätter vom Pestwurz und Wasserpfeffer vom Rande eines Tümpels, Huflattichblätter,
Weidenröschen samt Wurzeln und Hopfenranken vom nahen Waldrande mussten genügen, um die
Fleischstücke einzupacken und zu würzen.
Nur die Wurzeln der Weidenröschen hackte ich ab, um sie nachher oben auf der Asche zusammen mit
Sumpfziestknollen zu rösten.
Ich schob den Kreis der glühendheißen Kiesel etwas auseinander, die Asche zur Seite, legte die
eingepackten Stücke auf die Ascheschicht im Kreis und bedeckte sie vollkommen mit glühender Asche.
Als danach dann die Knollen und Wurzeln oben in der Asche rösteten, konnte ich darangehen, den
Männern einen Imbiss zu bereiten.



Daumendicke Scheiben schnitt ich von den Filets und klopfte diese mit der flachen Seite eines Steinbeiles
mürbe. Mit feuchtem Moos wischte ich zwei der glühenden flachen Findlinge am Feuer vom Aschenstaub
frei und ließ die Filetscheiben darauf von beiden Seiten kräftig anbraten.
Zusammen mit Wasserpfeffer schlug ich sie in eines der großen Blätter ein und trug sie zu den Männern
an den Fluss.
Das Bootsgerippe war schon nach dieser relativ kurzen Zeit als solches zu erkennen.
Die beiden verbanden bereits die Längs- und Querspanten an deren Kreuzungspunkten mit
neu geschnittenen oder hier vorgefundenen Fellstreifen.
Die gut daumendicken Längsspanten waren über eingerammte Pfosten gebogen und deren
zusammengebundenen Enden bildeten die künftige Bug- und Heckspitze.
Die Querspanten aus fingerdicken Weideruten hatten sie einfach quer darüber gebogen und mit beiden
Enden in die Erde der hier flachen Uferstelle gesteckt.
Du kannst dir sicher vorstellen, dass es sehr viel zu knoten gab, denn die Bögen der Querspanten standen
jeweils nur eine Spannbreite auseinander und bildeten das Gerippe des künftigen Bootes.
Dass dieses wegen der fast quadratischen Bullenhaut eine recht bauchige Form erhielt, kannst du dir sicher
auch denken.
Die Männer machten keine Pause zum Essen und arbeiteten weiter, während sie kauten.
Ich half ihnen selbstverständlich sofort, denn die Knoterei ging mir doch wesentlich schneller von der
Hand, als den beiden.
Das zunächst wacklige Gestell gewann sichtlich an Stabilität und bereits nach kurzer Zeit konnten wir das
Fell, mit der Fleischseite nach außen, darüber legen.
Wir zerrten und spannten es nach allen Seiten, bevor wir direkt über dem Boden mit Sticheln Löcher
hineinbohrten und es dort an den Längsspanten, also dem späteren Bootsrand festbanden.
Dann zogen wir das Ganze hoch, drehen es um und mussten dann, nachdem alles Überflüssige von den
Ruten und vom Fell abgeschnitten war, noch den gesamten Bootsrand vernähen. Meine Besorgnis, dass
den Jägern eine weitere Gruppe folgen könnte, teilte ich den beiden dann doch mit, als ich sah, wieviel
Zeit die Arbeit noch kosten würde.
Schließlich waren sie einverstanden, dass Koro, als unser bester Läufer einen weiten Erkundungslauf
machen sollte.
Nach etwa einer halben Stunde, - wir hatten den Bootsrand schon größtenteils umgelegt und mit
Fellstreifen verknotet, - kam Koro zurück.
"Cara! Du hattest recht! Etwa ein Dutzend Leute sind vom Süden her im Anmarsch. Aber keine Sorge! -
Es dauert weit länger als eine halbe Stunde, bis sie hier sein können. - Ich bin nämlich, weit an der
südlichen Waldgrenze, auf den höchsten Baum dort geklettert, und entdeckte sie, als sie in der Ferne
einen Hügelkamm überquerten.
Also, wenn die hier sind, schwimmen wir schon meilenweit von hier, auf dem Fluss."
"Cara!" sagte Urs. "Während wir das Fleisch und die Gegenstände vom Feuer holen, suche Du schon mal
etwas Polstermaterial zusammen, damit wir nicht auf den harten Spanten liegen müssen!"
Nach Koros Auskunft hätte ich eigentlich beruhigt sein können und doch wurde ich ganz nervös, als ich
wieder allein war.
Fast fieberhaft schnitt ich soviel Schilf ab, dass der Bootsboden bedeckt war und begann trockenes Gras
zu suchen. Zum Glück gab es hier einige Mulden mit Waldseggen. Fieberhaft rannte ich zwischen den
Seggenmulden und dem Boot hin und her und warf armweise hinein.
Es ging mir fast nicht schnell genug bis die Beiden zurückkehrten, obschon höchstens zehn bis zwölf Minuten
verstrichen waren.



Urs und Koro trugen den Sack mit den kochendheißen Bratenstücken an einer Stange zwischen sich und
hatten die Gebrauchsgegenstände an ihrem Körper und in den Rucksäcken
verstaut.
Urs sah mir die Unruhe sofort an und versuchte mich zu beruhigen. Er half mir noch schnell, den Boden
auszupolstern.
Wir setzten den Nachen in Ufernähe auf das Wasser, verstauten den Fleischpacken und die Gegenstände
bereits darin, während Koro noch schnell zwei dünne Stämmchen als Staken zurechthackte.
Urs das hielt dann Bötchen fest, damit ich vorn Platz nehmen konnte.
Er reichte mir dann einen der Staken, damit ich ihn beim Halten unterstützen konnte, während Koro
einstieg. Koro stützte danach dann das wackelnde Gefährt mit seinem Stab zur anderen Seite hin, damit
auch Urs hinten Platz nehmen konnte
Eigentlich hatte ich von der Haut eines solch großen Tieres ein geräumiges Boot erwartet, doch es war nur
ein beängstigend kleiner Nachen geworden.
Kleiner hätte das Boot aber auch nicht sein dürfen, denn die Wasserlinie war nur eine gute Handbreit vom
Bootsrand entfernt.
Nachdem wir mit dem Gleichgewicht klar kamen, ging es so zügig den Fluss hinunter, dass wir von den
ankommenden Fremden nichts mehr bemerkt haben.
Um die hinterlassenen Spuren kümmerten wir uns nicht mehr, weil die Fremden kaum Gelegenheit
haben würden, uns einzuholen.
Es war nämlich höchst unwahrscheinlich, dass sie hier am Fluss ein Boot versteckt hielten, weil ein Fellboot
schnell von Nagern und anderen Kleintieren zerstört würde.
Ein Einbaum aber auf diesem schmalen Fluss wegen der vielen starkströmenden Flachwasserstellen nicht
zu gebrauchen war.
Nur unserem flachgehenden Nachen verdankten wir es, das wir über sämtliche seichten Stellen
hinweghuschten.
Eine Verfolgung über Land aber brauchten wir wegen der vielen Sümpfe in Flussnähe kaum zu fürchten.
Es ging mir durch den Kopf, dass die überstandene Episode nicht zur Entdeckung durch meine Vettern
führen konnte, denn die nachfolgenden Fremden würden unsere Spuren gründlich verwischen.
Wenngleich uns von denen wahrscheinlich jetzt ebenfalls Blutrache drohte, so gab es doch niemand in
dieser Gegend, der uns je gesehen hatte.
Urs und Koro hatten zwar zunächst mit den Staken für eine hohe Geschwindigkeit gesorgt,
ließen das Boot aber jetzt in der Abenddämmerung treiben, einmal um jedes Geräusch, das zur
Entdeckung vom Ufer her hätte führen können, zu vermeiden, zum anderen um selbst besser auf jedes
verdächtige Geräusch achten zu können.
Urs hatte mich überzeugt, dass es besser sein würde, wenn jemand tagsüber Wache hielt, der einigermaßen
ausgeschlafen war, weil er und Koro dann schlafen müssten, um nachts zum Führen des Bootes hellwach
zu sein.
Meine Versuche, einzuschlafen, waren aber zunächst vergeblich, denn die Ereignisse des Tages hatten
mein Seelenleben viel zu sehr aufgewühlt.
Die einschläfernde Wirkung des steten sanften Schaukelns ließ mich aber schließlich doch in einen
überraschend tiefen Schlaf sinken, aus dem ich erst durch die Strahlen der aufgehenden Sonne - mit
steifem Nacken, geweckt wurde.
Das dichte Ufergebüsch in dieser offensichtlich unbewohnten, weil sumpfigen, Gegend bot gute Deckung
nach allen Seiten, um hier die notwendige Tagesrast zu verbringen.



Nachdem die beiden ein Versteck am Ufer gesucht und sich schlafen gelegt hatten, suchte ich von
Eichenblättern die erreichbaren Galläpfel ab und rieb mit deren Saft das immer noch frische Fell ein, um
es vor Gammel und Madenbefall zu schützen.
Die Haut war danach zwar totgegerbt, d.h. nicht mehr gerbbar, weil die scharfe Lohe der Galläpfel die
oberste Hautschicht sofort gegerbt und für weitere Gerbstoffe undurchdringlich zusammenzog. Doch ich
hoffte, dass uns dadurch Madenbefall und Gammelgestank in den nächsten Tagen und Nächten erspart
würde.
Drei weitere Nächte ließen wir uns, oft kräftig beschleunigt von den Staken, den Fluss hinuntertreiben.
Während tagsüber die Männer ruhten, versuchte ich unterdessen, während des Kräuter- und
Beerensammelns, die höchste Erhebung oder den höchsten Berg, in der näheren Umgebung zu
erklimmen, um in etwa sagen zu können, was wir in der kommenden Nacht zu erwarten hatten. Die
weiter entfernt liegenden höheren Berge überließ ich aber den Männern.
Am vierten Tage war Koro am Nachmittag zu einem weit vor uns liegenden hohen Berg geeilt, um die
Fernsicht auf dessen Höhe zu nutzen.
Trotz Dauerlaufes kam er erst nach zwei Stunden von der Erkundung zurück und erklärte uns, dass die
Bootsreise nun zu Ende sei. Er hatte weiter Flussabwärts Rauchsäulen entdeckt, die von direkt am Fluss
liegenden Dörfern stammen mussten.
"Es ist einfach unwahrscheinlich, unbemerkt daran vorbeizukommen," erklärte er.
"Im Westen ist Wald, soweit das Auge reicht und im Osten sieht die Gegend hinter dem Waldgürtel des
Flusses ziemlich braun aus.
Es muss Moor, Heide oder Steppe sein. Ödland jedenfalls, in dem wohl kaum Menschen wohnen dürften.
Im Wald, im Westen, aber besteht dauernd die Gefahr, auf Jäger zu treffen. Ich bin dafür, dass wir nach
Osten gehen!"
"Ich bin auch dafür", stimmte Urs ihm zu. "Ich meine aber, wir sollten auch weiterhin nachts reisen.
Denn tagsüber wären wir auf den freien Flächen schon von weitem zu entdecken!"
Ich teilte zwar die Ansicht der Männer, doch sollten sie zuvor das Waldgebiet bis zum Beginn des
Ödlandes kontrollieren, um nicht noch unversehens auf irgendwelche Jäger zu stoßen.
Ich wollte inzwischen am Fluss frische Kräuter suchen.
Am flachen Flussufer rupfte ich gerade etwas Wasserpfeffer, sah ein wenig weiter die spitzen Blätter des
Pfeilkrautes aus dem Wasser ragen. Ich vergewisserte mich, nach allen Seiten spähend, ob ich gefahrlos
einige der nussigschmeckenden Wurzelknollen holen konnte.
Plötzlich trat ein junger Rehbock aus den Büschen ans Wasser um zu trinken.
Ich war durch einen Strauch gedeckt, so dass er mich nicht sehen konnte. Riechen konnte er mich auch
nicht, denn der leise Wind trug meine Witterung fort.
Das Jagdfieber packte mich und die Jägerin in mir ging mit mir durch. Ohne es recht zu wollen, nahm ich
den Bogen von der Schulter, legte einen Pfeil auf, zielte und schoss.
Der Bock brach zusammen.
Auf einer solch kurzen Distanz war nämlich auch ein Schuss von meinem leichten Bogen für ein Reh
durchaus tödlich. An Ort und Stelle weidete ich das Tier aus und ließ die Eingeweide für die kleinen
Räuber und Aasfresser liegen.
In kurzer Zeit würde wohl nichts mehr davon zu sehen sein. Ich holte mir doch noch die Pfeilblattknollen
und steckte sie in die Tasche zum Wasserpfeffer, schlug mir das Reh auf die Schultern und kehrte zum
Versteck zurück.
Wir ließen das Reh in der Decke, damit es bis morgen frisch blieb und aßen nur die Leber roh zum
gemischten Gemüse. Die letzten Bratenstücke, die nun doch anfingen zu gammeln und zu verderben,
brauchten wir nun nicht mehr zu essen.



Wir machten uns gegen Abend auf den Weg, nachdem wir Holz und Haut des Bootes getrennt in den Fluss
geworfen hatten. Weil die Haut nur als Fladen auf der Wasserfläche sichtbar war, wenn sie in der Nacht
an den Dörfern vorbeitrieb, würde sie genau so wenig auffallen wie das zerschlagene Holzgerippe.
Wie schon vor Tagen bewegten wir uns mit der nötigen Vorsicht, Spuren vermeidend durch den Wald
und erreichten das freie Ödland kurz nach Einbruch der Dunkelheit.
Der Nordstern war wegen der wechselnden Bewölkung, fast immer zu sehen und deshalb konnten wir
auch relativ problemlos danach die nördliche Richtung beibehalten.
Wir wollten nämlich nach etwa zwei Tagesreisen (natürlich Nachtreisen) versuchen, wieder in die Nähe
des Flusses zu gelangen.
Manchmal allerdings mussten wir enorm die Richtungen ändern. Denn ausgedehnte Etappen über
hochgelegene Flächen, auf denen sich unsere Umrisse deutlich gegen den Nachthimmel abhoben, konnten
wir einfach nicht riskieren.
Am Morgen erreichten wir ein steiniges Hügelgebiet, das überwiegend mit harten Gräsern und Heide
bewachsen war.
Durch die vielen Kiefern- und Birkenbüsche und auch Wacholdergruppen war es völlig unübersichtlich.
Deshalb waren wir froh, als wir unterhalb eines felsigen Hügels eine Busch umsäumte Senke fanden, in
der wir vor Entdeckungen ziemlich sicher waren.
Deren Nordflanke war ein Hügelhang, aus dem an vielen Stellen felsige Platten hervorragten. Urs und ich
schnitten das Rehfleisch in dünne Streifchen und breiteten es auf den jetzt schon aufgeheizten
Steinflächen zum Trocknen aus.
Koro machte sich inzwischen mit jugendlichem Elan daran, einen Teil des Hirns schon jetzt in das Rehfell
einzuwalken. Den Rest musste er dann in späteren Rastpausen bis zur fertigen Gerbung immer wieder
einarbeiten.
Viel Laub und Spreu hatte sich in der Senke angesammelt, mit dem wir die von Geröll freigeräumten
Gebüschnischen als Schlafplätze auspolsterten.
Zum Frühstück gab's vor der nachzuholenden Nachtruhe diesmal nur die frisch und nussig schmeckenden
Pfeilblattknollen.
Als wir am Nachmittag aufwachten, war das Fleisch schon stark zusammengetrocknet und die feinsten
Streifchen bereits ausgetrocknet. Jetzt hatten wir Trockenfleisch, mit dem wir unsere Kräutermahlzeiten
ergänzen konnten.
Wir machten uns bereits zu Beginn der Abenddämmerung auf den Weg und kamen während der
Nachtstunden zügig voran.
In der Morgendämmerung sahen wir in weiter Ferne vor uns einen Höhenzug, an dessen Kamm zwar die
helleren Stellen, also Felsen, vorherrschten, dessen Flanken aber überwiegend dunkel, d. h. bewaldet
waren.
Um uns herum gab es jedoch nur trockenes Ödland bis zur Grenze des Blickfeldes.
Eine Stunde mussten wir noch laufen, bevor wir eine geeignete Stelle als Versteck für die Tagesrast
gefunden hatten.
Das Wasser mussten wir aber bereits einteilen und eine grüne Stelle, die Wasser bedeutete,
war im weiten Umkreis nicht zu entdecken.
Trotz der trockenen Kehle, nach dem Erwachen am späten Nachmittag, konnten wir uns nur einige
Schlücke vom schalen Wasser aus der Lederkruke leisten.
In der kommenden Nacht legten wir ein schärferes Tempo vor, denn bewaldete Berghänge verhießen
Wasser.
Die Berge des Höhenzuges hatten wir jedoch erst am nächsten Morgen direkt vor uns.



Hier unten gab es zwar schon Baum- und Strauchgruppen, jedoch noch keinen dichten Wald. Aber auf ein
kleines Rinnsal trafen wir, das sicher schon bald irgendwo in der näheren Steppenlandschaft versickern
würde.
Es war wunderbar, wieder frisches Wasser zu haben.
Wir brauchten unbedingt einen Überblick, wohin uns unsere Reise führte und kletterten deshalb schon
am Nachmittag durch den Hangwald hinauf zu den Felsen. Das einzige, das hier oben zwischen den
steinernen Kanzeln wuchs, war Farnkraut. Nur hier und da fristete eine krüppelige Kiefer ihr Dasein in
einer der zahllosen Spalten.
Von den aufragenden Felsen aus hatte man einen prächtigen Ausblick über das weite Land.
Die westlichen Hänge des Höhenzuges waren wesentlich dichter bewaldet als die östlichen . Zwar ging
auch auf dieser Seite der Wald schon nach einigen tausend Schritten nach und nach in eine gelbbraune
Steppenlandschaft über.
Der dunkle Streifen am Horizont im Westen deutete aber auf Wälder und damit auf 'unseren' Fluss hin.
Gar nicht weit entfernt von unserem Standort, im Nordwesten, stand jedoch Rauch über den Bäumen und
deshalb war wieder doppelte Vorsicht geboten.
Wir beschlossen, in der Nacht geradewegs nach Westen zu ziehen und hofften im Morgen- grauen den
Fluss zu erreichen.
Mit der nötigen Vorsicht stiegen wir hinunter, durchquerten den Wald und erreichten die baumlose Ebene
nach Einbruch der Dunkelheit.
Bereits vor Sonnenaufgang deuteten die vielen Erlen, Weiden und Espen in den Senken daraufhin, dass
wir uns bereits im Feuchtgebiet des Flusses befanden. Doch unversehens hinderte uns ein Sumpf daran,
den von den Felsen aus erspähten Wald am Fluss zu erreichen.
Schilf, Riedgras und schwammiger Boden mit einer trügerischen, dünnen Pflanzendecke! - Hier ging es
nicht weiter!
Wir überlegten gerade, ob wir den Sumpf nach Norden oder Süden hin umgehen sollten, als uns die
Entscheidung abgenommen wurde.
Weit entfernt aus nördlicher Richtung hörten wir plötzlich geiferndes Hundegebell und gleich darauf einen
langgezogenen, schrillen Schrei, wie nur ein Mensch in Todesnot ihn von sich gab. Dort hatte man also
einen Menschen mit Hunden gehetzt und gestellt. - Solchen "Jägern" ging man besser in weitem Bogen
aus dem Wege.
Wir wandten uns also nach Süden. Doch auch dort stießen wir schon bald auf den unwegsamen Sumpf.
In der Dunkelheit waren wir jedoch auf einer Landzunge ziemlich tief da hineingeraten. So mussten wir ein
ziemliches Stück zurück, bevor wir uns wieder nach Süden wenden konnten.
Ein paar tausend Schritte weiter südlich stieg das Gelände langsam an und wurde trockener. Ein
langgezogener flacher Berg aus schieferartigem Kalkgestein zog sich quer durch die Landschaft und war
spärlich mit Schlehen, Disteln, und mageren Kräutern bewachsen.
Doch vielerorts war nacktes brüchiges Gestein zu sehen.
Auf der Flanke des Kalkberges konnten wir den Fluss dann schnell erreichen und sahen, dass
sich dieser Bergrücken auch auf der anderen Flussseite fortsetzte.
Vor unendlich langer Zeit hatten sich hier die Fluten wohl einen Weg durch den brüchigem Kalkstein
gefressen und entsprechend steil fielen hier die kurzen Berghänge zum Fluss hin ab.
Das Flussbett war an dieser Stelle sehr flach und das Wasser rauschte mit starker Strömung über den
felsigen Untergrund.- Als wir durch den Fluss wateten, ging uns das Wasser selbst an
den tiefsten Stellen gerade bis zu den Knien.
Viele Forellen huschten durch die klaren, kalten Fluten vor uns davon.



Auf der anderen Seite folgten wir dem baumlosen Kalkrücken unentwegt nach Westen, um möglichst
weit von der brutalen Sippe fortzukommen.
Wider Erwarten stieg der Kalkberg ständig weiter an, dehnte sich auch in der Breite immer mehr aus und
gliederte sich später in mehrere Bergrücken auf.
Nach etwa zwei Stunden glaubten wir, genügend Abstand gewonnen zu haben und lenkten unsere
Marschroute wieder nach Norden.
Wenn auch die endlosen Hügel, durch die wir jetzt zogen, aus Sand, Kies und Findlingen bestanden, an
der äußerst spärlichen Vegetation änderten sich nur die Pflanzenarten.
Dass sich an einigen der tiefsten Geländestellen kleine Seen bildeten, zeigte mir, dass sich unter den
Kiesbergen eine kompakte, wasserundurchlässige Schicht aus Ton oder Felsen befinden musste.
Trotzdem wären diese längst ausgetrocknet und verdankten ihren langen Fortbestand wahrscheinlich nur
den ausgiebigen, sommerlichen Niederschlägen in dieser Gegend.
Jedenfalls gab es nur an den Rändern dieser Tümpel vermehrten Pflanzenwuchs, der jedoch gerade mal
zum Überleben von einigen Karnickeln ausreichte. Ich wollte meinen Augen nicht trauen, aber zwischen
den großen und kleinen Kieseln lagen hier auch
überall heile oder zersprungene Feuersteinknollen.
Das bedeutete: In dieser Gegend musste es viele solcher ergiebigen Fundstellen geben und dieses Gebiet lag
zu weit von allen menschlichen Wohnstätten entfernt. Denn sonst läge der Feuerstein hier nicht so
unbeachtet herum.
Auch wir mussten das viele schöne Material, aus dem man Faustkeile, Äxte, Schaber, Messer, Pfeil- und
Speerspitzen und vieles mehr zurechtschlagen konnte, unbeachtet liegen lassen. Wir konnte es einfach
nicht mitschleppen.
Um ein wenig dem Flusstal näher zu kommen, bogen wir wieder nach Nordost ab. Kamen nun aber,
sozusagen, vom Regen in die Traufe (von der Steppe in die Wüste) Denn das Land wurde bereits nach
einer halben Wegstunde immer sandiger.
Zunächst gab es nur einige Sandverwehungen, aber schon bald reihte sich Sanddüne an Sanddüne. Wir
waren in ein Gebiet von Wanderdünen geraten, von denen man sich in meiner Heimat wahre
Schauermärchen erzählte. Sie hätten, z.B., nach nächtlichen Sandstürmen schon Siedlungen mit Mann
und Maus unter sich begraben. - Ja, ja, Ciaro! Ich weiß, dass das so nicht stimmt und dass d u die
Verwehungen kennst. - Nun wir sahen tatsächlich die Spitzen von jungen Kiefern und Birken aus dem
Sand ragen.
Wir beschlossen, die Dünen zu durchqueren, weil wir nach Westen mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit
wieder in Kiesberge und nach Osten zu sehr in die Nähe der bösartigen Sippe gekommen wären.
Doch unsere Hoffnung, diesen unwirtlichen Landstrich in ein bis zwei Stunden hinter uns bringen zu
können, trog.
Nach etwa drei Stunden gab es zwar nur noch flache Verwehungen. Doch waren es zuerst auch nur
einzelne Felsbrocken, die aus dem feinen Sand hervortraten, so wurden immer mehr und immer höhere
daraus, je weiter wir vordrangen.
Schließlich war aus den zuerst einzeln auftretenden Felsen ein riesiges Felsenmeer geworden, das sich
scheinbar unendlich ausdehnte.
Mein kleiner Ciaro! Du weißt schon, wovon ich spreche! - Ja, es war das Felsenmeer, in dem wir in den
letzten Jahren gewohnt haben, und das wir gerade verließen.
Damals war es aber für uns völlig unbekannt und unübersichtlich und deshalb musste einer der Männer
mal wieder als Kundschafter vorangehen.
Koro übernahm diesmal die Aufgabe.
Es war purer Zufall, dass er nach dann langer Zeit, als bereits die Dämmerung begann, auf unsere kleine
Quelle traf.



Er sah sofort, dass es sich bei dem Wasserbecken aus Ton und den angebauten Gemüsekräutern um die
Produkte menschlichen Schaffens handelte. Auch sonst entdeckte er überall Spuren menschlichen
Daseins.
Doch als er davonschleichen wollte, hörte er ganz in der Nähe die Stimme eines Unsichtbaren: "Nur ein
Laut oder eine Bewegung mein Junge und ich blase dir das Lebenslicht aus. - Lass deine Streitaxt fallen
und komme mit ausgebreiteten Armen hierher! - Gut so! - Jetzt leg dich auf den Bauch und kreuze die
Hände auf dem Rücken - wenn dir dein Leben lieb ist!"
Koro hoffte immer noch auf seine Chance, doch als er den Zug der Schlinge an seinen Handgelenken
spürte, wusste er, dass er verspielt hatte.
Es kam, wie es kommen musste - dein Vater Urs und ich tappten ebenfalls ahnungslos in die Falle des
schlauen Cernar.
Der war zunächst sehr, sehr misstrauisch, Doch nachdem wir den Alten dann überzeugt hatten, dass wir
wirklich harmlose und heimatlose Flüchtlinge waren, freute er sich wie ein Kind.
"Dann könnt ihr bei mir bleiben", jubelte er regelrecht . "Und ich bin endlich nicht mehr allein. - Ich zeige
euch, wie man hier überleben kann.
Wir bauen euch ein Heim, und ihr seid erst einmal eure Sorgen los."
"Und woher sollen wir das Holz für die Behausung nehmen?", fragte Urs. "Denn wenn wir am Fluss
Bäume fällen, wird man uns bald entdecken."
"Oh, keine Sorge", antwortete Cernar. "Ich weiss einen Windbruch, in dem ein Feuer gewütet hat. Dort
liegen noch grosse Mengen angekohlter Stämme herum, die wir ohne einen Axthieb zu tun, unbemerkt
holen können. Wir müssen sie zwar sehr weit tragen, aber wir sind doch jetzt eine Mannschaft von drei
Männern!"
Bis weit in die Nacht hinein haben wir dann noch am Feuer gesessen und erzählt, bis wir schliesslich
übermüdet einschliefen.
So, mein Junge, und jetzt wirst auch du ein bisschen schlafen, denn du willst doch sicher von der Floßfahrt
etwas sehen und den Rest der Geschichte kennst du ja bereits!"
Tatsächlich fielen mir nach Mutters langer Geschichte die Augen fast von selbst zu.
Als sie sich dann neben mich legte, kuschelte ich mich an sie, legte meinen Kopf auf ihren Arm und
schlief augenblicklich ein.

 .........................

 

Ende der Leseprobe.




                       

 

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Euer Team,